Von Wahrheit zu sprechen klingt oftmals Vermessen. Es ist ein großes Wort und die Enthüllung ihrer hat oftmals große Folgen. Die Verschleierung derselben noch größere – und oft wissen wir nicht, ist das jetzt wahr oder nicht. Die einen behaupten ja, die anderen nein. Und mit Fakten ist das bekanntlich so eine Sache: Sie werden gefälscht, sind interpretierbar und selbst wenn sie schwarz auf weiß vor uns liegen, ziehen wir oftmals vor sie zu negieren. Kurzum: Es ist nicht leicht mit der Wahrheit und trotzdem ist sie so unwahrscheinlich wichtig. Es verwundert also wenig, dass sie auch in der Literatur immer wieder eine bedeutende Rolle spielt.

„Das Leben des Balthasar Rüssow“

Einem Autor, dem man die Suche nach der Wahrheit als Merkmal seiner Literatur zugesprochen hat, ist Jaan Kross. Schon in seinem Roman „Der Verrückte des Zaren“ bringt der Eid immer die Wahrheit zu sagen den deutschen Berater des Zaren Timotheus Eberhard von Bock in erhebliche Schwierigkeiten und auch in seinem rund 1450 Seiten umfassenden Monumentalwerk „Das Leben des Balthasar Rüssow“ ist jener zahlreichen Anfeindungen ausgesetzt, weil er als Gelehrter über Dinge schreibt, die die Herren des damaligen Estlands weder hören noch verbreitet wollen wissen. Über zehn Jahre schrieb der estnische Autor – der selbst mehrere Jahre in Straflagern in Sibirien verbrachte – an seinem Werk.

Von den Knabenjahren des estnischen Fuhrmannssohns über seine Ausbildungs- und Wanderjahre bis hin zur Veröffentlichung seiner „Chronica der Provinz Lyfflandt“ und dessen unvermeidlichen Tod liefert Kross Einblicke in das Leben der historischen Persönlichkeit Balthasar Rüssows, der es schafft sich trotz Unterdrückung der estnischen Bevölkerung durch den deutschen Ordensstaat emporzukämpfen und in Folge nach deren Zerfall zwischen die Fronten kriegstreibender Länder, findiger Adeliger und verräterischer Emporkömmlinge gerät. Damit liefert Kross ein Gesellschafts- und Sittengemälde des 16. Jahrhunderts, das ihm wie seine anderen Werke den Ruf einbrachte, der Erneuer des historischen Romans zu sein. Doch anders als so mancher vor Tristesse und moralischem Gehabe strotzender Bildungsroman geling es Kross die Handlung rund um das Leben des mittelalterlichen Gelehrten mit bildhafter Sprache stets spannungsvoll voranzutreiben. Das macht „Das Leben des Balthasar Rüssow“ nicht nur für Menschen, die sich für die Geschichte Estlands interessieren, spannend, sondern für alle, die an politischen Intrigen und dem Spiel um die Macht Interesse haben und sich nicht von dem Umfang des Buches abschrecken lassen.

„Als die Tauben verschwanden“

Ein gewisses Durchhaltevermögen ist auch für den Roman „Als die Tauben verschwanden“ der finnisch-estnischen Starautorin Sofi Oksanens notwendig. Hier jedoch weniger aufgrund seines Umfangs als vielmehr wegen der Darstellung der zwischen 1941 und 1965 herrschenden Zustände in Estland und der Skrupellosigkeit mancher Menschen. Die Charaktere werden allerdings anders als bei Kross weniger detailreich konstruiert, vielmehr dienen sie als Schablonen um eine Zeit aufzuarbeiten, die von Verrat, Mord und Mitläufertum bestimmt war. Im Mittelpunkt des Romans stehen die Cousins Roland Simson und Edgar Parts sowie dessen Frau Judith. Während Roland sich als Widerstandskämpfer weder von den Kommunisten noch von den Nationalsozialisten einspannen lässt und bemüht ist die Wahrheit am Mord seiner Verlobten Rosalie aufzuklären, fungiert Edgar als Wendehals wie er in der deutschen Literaturgeschichte durch Klaus Manns Mephisto wohl am besten repräsentiert wird. Für Edgar ist die Wahrheit nichts weiter als ein Stolperstein auf seinem Karriereweg, den es mit allen Mitteln aus dem Weg zu räumen gilt.

„The Man who spoke Snakish“

Aus den Augen, aus dem Sinn gerät hingegen gleich die ganze Welt von Leemet, Held des im doppelten Sinn des Wortes phantastischen Romans von einem von Estlands erfolgreichsten und vielfältigsten Gegenwartsautoren, Andrus Kivirähk. In „The Man who spoke Snakish“ (eine deutsche Übersetzung befindet sich gerade in Arbeit) imaginiert der als Kinderbuch- ebenso wie als Autor für Erwachsene erfolgreiche Schriftsteller das Ende einer Welt, in der Menschen und Tiere sich mittels einer Zischsprache – Snakish – unterhalten können. Bären fungieren als Verführer junger Frauen und Hirsche bieten sich durch bestimmte gezischte Befehle dem Menschen als Nahrung dar, während Wölfe sich bereitwillig als Milchlieferanten einfangen und melken lassen. Doch die deutschen Ordensheeren, die ihren christlichen Glauben im Land verbreiten, haben wenig Sinn für alte Bräuche und immer mehr Waldbewohner folgen dem Ruf dieser neuen – vermeintlich moderneren – Welt und lassen sich als Bauern in Dörfern nieder.

Bald schon sind Leemet, seine Familie und einige andere die letzten Vertreter einer untergehenden Welt. Eine Welt, die jedoch keineswegs verklärt dargestellt wird. Obwohl Leemets Kindheit sich im Wald betont idyllisch gestaltet, hat er doch immer wieder mit eigenbrötlerischen Nachbarn und spirituellen Fanatikern zu kämpfen. Hier wie dort – inmitten wie auch außerhalb des Waldes – ist der Mensch nicht vor der Dummheit gefeit. „The Man who spoke Snakisch“ kann ebenso als Coming-of-Age-Geschichte wie als Parabel über Menschen, die sich geblendet von den Mächtigen und vom Aberglauben bereitwillig in Knechtschaft begeben, gelesen werden. Tatsächlich wirkt der sich mit Tieren verständigende und Zeit seines Lebens auf der Suche nach dem mächtigen Frosch des Nordens suchende Leemet – so absurd sich das im ersten Moment auch anhören mag – als Vertreter der Aufklärung und Vernunft. Doch, und vor allem hier, ist der Roman ebenso zeitlos wie aktuell, keiner hört ihm zu. Ein Umstand, der so wie das Buch zutiefst traurig ist, wäre das ganze nicht so unglaublich absurd und humorvoll erzählt. Mit „The Man who spoke Snakish“ ist Andrus Kivirähk ein großartiges Buch gelungen, das zeigt, was Literatur alles sein kann. Von daher kann das Kulturfüchsinnen-Fazit nur lauten: unbedingt lesen!

Buchtipps:
Kross, Jaan: Das Leben des Balthasar Rüssow. Carl Hanser Verlag: Wien – München 1995.
(derzeit nur antiquarisch erhältlich)

Oksanen, Sofie: Als die Tauben verschwanden. Btb: München 2016.

Kivirähk, Andrus: The Man who spoke Snakish. Black Cat. New York 2015.

Geschrieben von Sandra Schäfer