Kronen, Edelsteine, Einhornhörner – die Wiener Schatzkammer ist ein Sammelsurium an monetären und kulturhistorischen Kostbarkeiten. Darunter auch, fast unscheinbar, einer der einst größten (und mystifiziertesten) Schätze der Christenheit: die Heilige Lanze – jene Lanze mit der der römische Soldat Longinus Christus am Kreuze in die Seite gestochen haben soll um dessen Tod zu überprüfen.
Dass es sich bei der Waffe jedoch vielmehr um eine Flügellanze aus karolingischer Zeit aus dem 8. Jahrhundert handelt ist mittlerweile erwiesen und dürfte auch schon vorigen Besitzern, darunter unter anderen Karl dem Großen, Konrad II. (dieser fertigte Anfang des 11. Jahrhunderts das Reichskreuz als Behältnis für die Heilige Lanze) und dem Geschlecht der Ottonen vermutet worden sein. Trotz möglicher Zweifel wurden der Lanze über die Jahrhunderte besondere Kräfte zugeschrieben, so hatte sie König Otto I. unter anderem in der berühmten Schlacht am Lechfeld 955 gegen die Ungarn zu Siegesruhm verholfen – exakte Beschreibungen des Stückes in der Wiener Schatzkammer lassen sich durch die Jahrhunderte finden.

Geschichten der Heiligen Lanze, die mit dem Blut Christi in Berührung gekommen sein soll, existierten seit die Heilige Helena (Mutter von Kaiser Konstantin) jene Lanze im 4. Jahrhundert bei einer kurz vor ihrem Tod unternommenen Reise ins Heilige Land aufgespürt haben soll. So soll schon Kaiser Konstantin in Besitz der Lanze gewesen sein. Durch welche Hände die Lanze im Laufe der Kulturgeschichte wanderte, darüber herrscht bis heute Uneinigkeit – eine Version der Geschichte, erzählt, sie sei in der Französischen Revolution verloren gegangen. Eine Unsicherheit, die sich bereits im Mittelalter auch in der Namensgebung widerspiegelte. In einem Brief an Heinrich II. wird die heute in Wien verwahrte Lanze als Mauritius-Lanze erwähnt. Auch eine silberne Manschette, die von Heinrich dem IV. in Auftrag gegeben wurde (vermutlich um das im 10. Jahrhundert gebrochene Lanzenblatt zu schützen), deutet die Lanze als jene des Heiligen Mauritius. Ab dem 13. Jahrhundert findet sich der Name Longinuslanze für die in Wien aufbewahrte Lanze.

Der Nagel des Herrn

So spricht allen voran Kaiser Karl IV. in einer im 14. Jahrhundert (über der silbernen Manschette) angebrachten Goldmanschette, die noch heute über dem eigentlichen Lanzenblatt zu sehen ist, in einer Inschrift von „Lanze und Nagel des Herrn“.
Auch der Nagel von dem hier die Rede ist – einer von jenen mit denen Christus ans Kreuz geschlagen wurde – ist noch heute im Inneren der ausgestemmten Lanze eingefügt. Wahrscheinlicher handelt es sich dabei allerdings um die Partikel jenes Nagels, die in einen anderen Nagel eingearbeitet wurden. Goldintarsien bezeichnen die  Stellen.

Von der Blüte der Sakralisierung zur Popkultur

Zur Zeit Karl IV. erlebte die Lanze den Höhepunkt ihrer Sakralisierung. Regelrechte Feste, an denen die Lanze dem Volk präsentiert wurde, wurden abgehalten. Der jüngste Sohn von Karl IV., König Sigmund, brachte die Lanze im 15. Jahrhundert in die Stadt Nürnberg, die in Folge vom Papst das Recht erhielt die so genannten Reichskleinodien, zu denen sich die Lanze mittlerweile zählen durfte, zu verwahren. Ein regelrechter Lanzentourismus setzte ein und auch so genannte Berührungsreliquien entstanden. So befand sich beispielsweise eine Holzlanze in Besitz von Erzherzogin Maria Elisabeth, die mit der Lanze in Berührung gekommen und deren Heilkraft in sich aufgenommen haben soll. Ein weiterer Brauch in diesem Sinne war das Durchstechen von Christusgemälden mit jener Lanze. Ein Zeitzeugnis befindet sich noch heute in der Wiener Pfarrkirche zum Heiligen Johannes Nepomuk im Bezirk Meidling.

Doch spätestens als Napoleon Ende des 18. Jahrhunderts durch Deutschland zog, fand der Nürnberger „Lanzentourismus“ sein Ende. Lanze samt Nagelpartikel sowie die anderen Reichskleinodien wurden nach Wien gebracht, von wo sie irgendwann, so versprach man, zurück transportiert werden hätten sollen. Doch dazu kam es nicht mehr. Trotz mehrmaliger Reklamation Nürnbergs blieb die Lanze nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches durch Franz II./I. mit Unterbrechung zur Zeit des Nationalsozialismus in Wien, wo sie zuletzt weltweit einen neuen Bekanntheitsgrad erlebte. Vor allem die amerikanische Populärkultur entdeckte die Lanze als „Speer des Schicksals“ für sich. Aus weniger seriösen Schriften können wir lernen, dass Hitler von dessen Macht regelrecht besessen gewesen sein soll, aber auch Indiana Jones begibt sich zumindest in Comic Form auf die Suche nach diesem Speer, der heute friedlich in der Schatzkammer ruht.

Geschrieben von Sandra Schäfer