Jedes Buch ist bekanntlich eine Welt für sich. Doch nicht jeder möchte die eine oder andere Welt gleichermaßen für sich entdecken. Manche dieser Welten sind unheimlich, manche fantastisch, andere romantisch oder – auch das ist des Öfteren schon vorgekommen – unheimlich langweilig. Doch was des einen Abenteuerspielplatz ist, ist des anderen Höllenqual. In der Literatur gilt: Jedem das seine. Es sei denn, man geht noch zur Schule, da findet man sich auf einmal mit Literatur konfrontiert, die vor allem eines ist – wichtig. Wichtig für das Verständnis einer Zeit, einer Nation oder gar im Bezug auf die großen menschlichen Fragen. Vor allem aber hängt die Qualität des Erlernten – wie bei fast allem – von der Vermittlung durch den Lehrer ab. In Polen, genauer im schlesischen Wrocław (Breslau), können Schüler diesbezüglich aufatmen. Seit Mai diesen Jahres steht Lernmuffeln und hilflosen Lehrern das im Jahr der Welthauptstadt des Buches eröffnete Pan Tadeusz Museum zur Seite.

Epos einer Nation

Auf rund 4.000 m2 (1.500 m2 davon dienen als Ausstellungsfläche) können Besucher in die Welt des gleichnamigen polnischen Nationalepos eintauchen. Pan Tadeusz – zu Deutsch Herr Thaddäus – gilt nach der Bibel als das meistgelesene Buch in Polen. Was vor allem an seinem Status als Pflichtlektüre in der Schule liegt. Als solchen hat es schon unzähligen Schülern den Kopf zum Rauchen gebracht. Das Thema – wie von einem Nationalepos nicht anders zu erwarten – kein einfaches.

Auf 286 (ins Deutsche übersetzte) Seiten verhandelt der Autor Adam Mickiewicz den Freiheitskampf Polens beziehungsweise das Streben eines Volkes nach einer Nation. Erschienen ist das Werk 1834, just zu einem Zeitpunkt als vom Staat Polen nichts mehr geblieben war und die erneuten Aufstände der 30er Jahre gescheitert waren. Mickiewicz setzt die Handlung seiner Geschichte in eine Zeit als am Horizont der ehemalig polnischen Gebiete noch die Hoffnung schimmerte. Und diese Hoffnung hieß Napoleon. Eine Hoffnung, die sich mit der Niederlage und der endgültigen Abdankung Napoleons als Folge des Russlandfeldzugs 1812, der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 und dem zum Sprichwort avancierten Waterloo 1815 (die letzte Schlacht Napoleons) sowie dem „Weltordnungskongress“ in Wien 1814/1815 endgültig auflöste. Doch im Sommer 1811 sieht die Welt für Mickiewicz Protagonisten noch anders aus.

Die Schlachta – der polnische Landadel

Die polnische Schlachta (niedriger Landadel) erhoffte sich von Napoleon den Sieg über die verhassten russischen Invasoren, die 40 Jahre zuvor gemeinsam mit Preußen und Österreich begonnen hatten Polen sukzessive untereinander aufzuteilen bis nichts mehr übrig geblieben war, das sich nationales Staatengebilde nennen konnte. Mit Polen-Litauen (seit 1386 befanden sich die beiden Länder in einer Personalunion und seit 1569 in einer Realunion) verschwand nach und nach auch die polnische Lebensart der Schlachta, die jahrhundertelang als so genannte Adelsrepublik mit einem Wahlkönig an der Spitze die Geschicke des Staates mitlenkte. Das besondere: jeder Bürger konnte dank des „Liberum Veto“ Einspruch erheben und einen Beschluss zu Fall bringen, was das Land oftmals in Handlungsunfähigkeit stürzte. Eine Reform der Gesetze kam zu spät. Preußen, Russland und Österreich hatten bereits begonnen ihre Machtinteressen auf dem Rücken der Republik auszutragen. Kurzerhand marschierten russische Truppen in Polen ein – nachdem die Konföderation von Targowica (eine Gruppe von Magnaten – Hochadel -, die sich gegen die angestrebten Reformen wehrten) schon im Vorfeld gegen die Anhänger der Verfassung vorgegangen waren – und erklärte die neue Verfassung vom 3. Mai 1791 für ungültig. Damit wurden nicht nur die Bauern erneut zu Leibeigenen, sondern auch manch Mitglied der Schlachta seines Adelstitels beraubt, während Magnaten zumeist unangetastet blieben.

Es ist diese Welt der unzähligen kleinadeligen Landbevölkerung (in Polen-Litauen trug jeder sechste einen Adelstitel) und deren Verhältnis zu Magnaten und den russischen Invasoren, die Mickiewicz beschreibt. Dabei bettet er den politischen Inhalt ganz in romantischer Manier in umfangreiche Naturbeschreibungen gespickt mit Volksmythen und Anekdoten aus dem Leben der Vorfahren ein.

Mickiewicz selbst war in der Geisteshaltung tief in der europäischen Romantik verwurzelt. Wie viele literarischen Helden und intellektuelle Zeitgenossen reiste der Autor viel, war an Geschichte und Politik interessiert, die er zu einem Gesamtkunstwerk zu verweben versuchte. Auch Mickiewicz zog wie viele seiner Zeitgenossen in den Freiheitskampf. Bei den Vorbereitungen einer polnischen Einheit, die im Krimkrieg gegen das russische Heer vorrücken sollte, starb er 1855 in Konstantinopel an der Cholera. Das erneute Werden eines polnischen Staates sollte er wie seine Zeitgenossen nicht mehr erleben.

Mission Polen

Erst nach Ende des Ersten Weltkrieges und dann erneut nach dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs sollten die Polen ihre Unabhängigkeit von Russland erhalten. Unter dem Motto „Mission Polen“ widmet sich der zweite Ausstellungsteil dem Streben nach Freiheit. Erzählt wird der Weg zum heutigen polnischen Staat anhand zweier Männer, die während der Sowjetzeit aktiv im Widerstand waren. Der Journalist und Leiter des polnischen Zweiges von „Radio Freies Europa“ Jan Nowak-Jezioranski und dem Historiker und späteren polnischen Außenminister Władysław Bartoszewski (von 1990 bis 1995 war er zudem polnischer Botschafter in Wien).

Den Übergang zwischen beiden Ausstellungsteilen bildet eine Licht- und Videoinstallation, die dem Thema Freiheitskampf und Unterdrückung im polnischen Film nachspürt. Spätestens hier ahnt auch der letzte Besucher, dass das Pan Tadeusz Museum mehr ist als ein Museum zu einem Buch, sondern ein Ort der Geschichtsaufarbeitung. Wobei die Zwischenkriegszeit, in der Polen fast mit allen Nachbarn (darunter auch Litauen) im Clinch lag und bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten, nonchalant ausgeblendet wird.

Ein Großteil der Museums-Bestände stammt aus dem Ossolineum (Ossolinski-Nationalbibliothek Breslau), das 1817 von Józef Maksymilian Ossoliński als Forschungsinstitut im damals österreichisch-ungarischen Lemberg gegründet wurde. Zu jener Zeit als das Bewahren der nationalen Identität und Geschichte immer wichtiger wurde. Für alle, die sich mit dieser Geschichte auseinandersetzen wollen, bietet das Museum dank diverser moderner Multimedia-Stationen einen spannenden und interessanten Einstieg. Der Weg führt von den Original-Seiten des Manuskripts über die romantische Salonkultur bis hin zum heutigen polnischen Staat. Dass in einem Raum dabei ein Fokus auf die Entwicklung der Frauenrechte gelegt wird – für Mickiewicz war die Frau als Kämpferin an der Seite des Mannes um die Bewahrung der polnischen Nationalität wichtig – erhält angesichts der derzeitigen Entwicklungen (nicht nur in Polen) allerdings einmal mehr einen traurigen Beigeschmack.

Pan Tadeusz Museum
Rynek 6, 50-106 Wrocław, Poland
Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag, 10.00 bis 18.00Uhr https://muzeumpanatadeusza.ossolineum.pl/en/

Mickiewicz, Adam: Pan Tadeusz oder die letzte Fehde in Litauen. Hrsg. Karl-Maria Guth. Sammlung Hofenberg. Verlag der Contumax GmbH. Berlin 2013. (der Text der Ausgabe folgt: Mickiewicz, Adam: Pan Tadeusz oder die letzte Fehde in Litauen. In: Poetische Werke, Bd. 1, Übers. V. Siegfried Lippiner, Leipzig: Breitenkopf und Härtel 1882.)

Geschrieben von Sandra Schäfer