„Wohnungen auch für die Arbeiter in Licht, Luft und Sonne“, so lautete die Kampfansage der Sozialdemokraten nach ihrer Machtübernahme in der Donaumetropole im Jahr 1919 gegen die Wohnpolitik der Bürgerlichen und die damit verbundene drückenden Wohnungsnot. Vom 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert prägten eilig hochgezogene Zinskasernen weitgehend das Wohnbild der rasch wachsenden Stadt. Kleine Räumlichkeiten, Wasserentnahme – die berühmt-berüchtigte Bassena – und Toilette am Gang, geteilt mit anderen Hausbewohnern. Hoher Profit für die Hausherren durch Mietwucher auf der einen, drückende Armut der arbeitenden Menschen und Bettgeheralltag (um 1900 haben 300.000 Wienerinnen und Wiener keine Wohnung) auf der anderen Seite. Dazu weitverbreitet ansteckende Krankheiten wie unter anderem Tuberkulose, die in den Armenvierteln besonders stark grassierte und deshalb auch als die „Wiener Krankheit“ bezeichnet wurde.

Wohnbausteuer für den guten Zweck

Als Wien 1922 eigenständiges Bundesland wurde, erlangte es auch die Steuerhoheit für Landesabgaben. Damit war der Weg frei für die große Wohnbauoffensive der Stadt. Finanzielle Basis war die 1923 beschlossene, zweckgebundene Wohnbausteuer (auch als Breitner-Steuer nach Finanzstadtrat Hugo Breitner bekannt). Diese war vor allem von den Besitzern vermietbarer Räume zu entrichten, wobei die teuersten Objekte fast die Hälfte der gesamten Einnahmen erbrachten. Auch waren die Gemeindebauten durch die Wohnungsgemeinnützigkeit von Steuern befreit.

Die Gestaltung der für die ärmeren Bevölkerungsschichten leistbaren Wohnungen und Anlagen war für die damalige Zeit geradezu revolutionär. Wasserentnahme und WC im Wohnungsinneren, Gemeinschaftseinrichtungen wie unter anderem Waschküchen, großzügig gestaltete Grün- und Freiflächen, Spielplätze, teilweise Kindergärten, Arztpraxen und Ambulatorien, Räumlichkeiten für kulturelle Veranstaltungen (Vereinslokale, Kinos, Büchereien, etc.) sowie Einkaufsmöglichkeiten für die Güter des täglichen Bedarfs – Stichwort: Konsumfilialen – prägten die Gemeindebauten.
Die sozialen Wohnhausanlagen dienten bald über die Grenzen der Stadt hinaus als Vorbild für soziale Wohnpolitik. Nicht selten wurden sie zudem von namhaften Architekten und Designern – wie Oskar Strnad (Loeschenkohlgasse 30–32), Peter Behrens (Franz-Domes-Hof am Margaretengürtel), Oskar Wlach (gemeinsam mit Josef Frank Rosa-Jochmann-Hof) und Josef Hoffmann (Klosehof in Döbling) – entworfen. (Alle gemeinsam waren an der Realisierung des Winarskyhof beteiligt.) Längst sind diese Bauten zum wichtigen Bestandteil der Architektur und Kultur Wiens geworden. Viele der Anlagen stehen heute unter Denkmalschutz.

Kultur im Gemeindebau

Als Ort für kulturelle Veranstaltungen locken sie zudem regelmäßig auch Nicht-Gemeindebau-Bewohner an. Die markantesten Bauten können entweder im Rahmen einer Führung (viele Wiener Fremdenführerinnen und -führer bieten Rundgänge an) oder bei der einen oder anderen speziellen Veranstaltung erkundet werden. Seit einigen Jahren ist beispielsweise der Gemeindebau Sandleiten Veranstaltungsort für die Kulturinitiative „Soho in Ottakring“. Konzerte, Filmveranstaltungen und Lesungen finden aber auch in anderen Gemeindebauten über das Jahr verteilt statt. Eine Übersicht bietet die Organisation „wohnpartner“, die auf ihrer Homepage über aktuelle Projekte informiert.

Ein Fixprogramm über das ganze Jahr verteilt, erwartet Besucherinnen und Besucher im Rabenhof. Zunächst Kinderhort später Kino wurden die Räumlichkeiten 1988 zum Theater umfunktioniert. Seit 2000 versteht sich das Theater im Gemeindebau als zeitgenössisches, urbanes Volkstheater mit popkulturellem Ansatz. Vor allem die Kabarett-Programme, beispielsweise der Gruppe maschek., erfreuen sich bei den Wienerinnen und Wienern großer Beliebtheit.

Permanent über das Jahr besucht werden kann auch die Ausstellung über das Rote Wien im „Waschsalon“ des Karl Marx Hof“. Das Museum ist seit 2010 in der Anlage beheimatet. Jeden Sonntag führt das Waschsalon-Team durch den Karl-Marx-Hof und die Dauerausstellung. Unter den insgesamt 450 Objekten der Schau, die über die Geschichte des kommunalen Wohnbaus mitsamt seiner Bildungs- und Kulturarbeit informiert, befindet sich auch der Länderspielpokal aus dem Jahr 1931, der auf dem Fensterbrett der Karl-Marx Hof-Wohnung des Fußball-Wunderteam-Kapitäns Hugo Meisl stand. Dieser wurde im Februar 1934 von einem Schuss getroffen als sich Österreichs Arbeiter dem Austrofaschismus entgegenstellten.

Abruptes Ende unter den Austrofaschisten

Mit der Machtübernahme der Austrofaschisten im Jahr 1933 endete vorerst die Ära der sozialen Errungenschaften des Roten Wien – und damit auch jene des Gemeindebaus in der Ersten Republik. Während der Februarunruhen 1934 waren zahlreiche Gemeindebauten Orte von bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Exekutivorganen der Diktatur, der sich als christlich-sozial gerierenden Regierung Dollfuß, der paramilitärischen Heimwehr auf der einen und des Republikanischen Schutzbundes, die Wehreinheit der Sozialdemokraten, auf der anderen Seite. Im blutig niedergeschlagenen Aufstand der Verfechter der Demokratie stand der Karl-Marx-Hof im Mittelpunkt der Kampfhandlungen.

Neues Leben blüht auf den Ruinen

Im Zuge des Zweiten Weltkriegs wurden die vorhandenen Mittel von den NS-Machthabern meist in die Rüstungsindustrie umgeleitet, zahlreiche Gemeindebauten wurden durch Bombardements und direkte Kampfhandlungen schwer in Mitleidenschaft gezogen, Tausende Wohnungen zerstört. Mit dem Wiederaufbauprogramm der Zweiten Republik ab 1945 wurde auch dem Gemeindebau neues Leben eingehaucht und ein diesbezügliches Bauprogramm realisiert.

Höhepunkt war in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, wo jährlich bis zu 11.000 Gemeindewohnungen errichtet wurden. Damals und zu Beginn der 70er Jahre entstanden die großen Wohnsiedlungen wie unter anderem die Großfeldsiedlung und Am Schöpfwerk, Trabrenngründe etc. Heute zählt die Stadt 220.000 Gemeindewohnungen (davon rund 1.600 HausbesorgerInnen-Dienstwohnungen und 7.500 Wohnungen in Fremdverwaltung), 6.000 Lokale und über 47.000 Garagen- und Abstellplätze. Fast eine halbe Million Menschen, und damit rund ein Viertel der Bevölkerung Wiens, hat in den Gemeindewohnungen ihr Zuhause.

Gemeindewohnbauprogramm aktiviert

2004 war mit der Errichtung der Anlage in der Rößlergasse in Wien-Liesing vorerst Schluss mit dem Gemeindewohnbauprogramm. Unter dem vormaligen Wohnbaustadtrat und nunmehrigen Wiener Bürgermeister Michael Ludwig hat die Stadt kürzlich ein neues Gemeindewohnbauprogramm initiiert. Mit diesem soll vorerst die Errichtung von 4.000 Gemeindewohnungen bis zum Jahr 2020 auf Schiene gebracht werden. Der Gemeindebau in Wien weist also nicht nur eine bemerkenswerte Vergangenheit und Gegenwart auf, sondern hat auch  Zukunftsperspektive; frei nach dem Motto des berühmten Wiener Bürgermeisters Karl Seitz, der im Zuge der Eröffnung des Karl-Marx-Hofes im Jahr 1930 meinte: „Wenn wir einst nicht mehr sind, werden diese Steine für uns sprechen“.

Klassische Gemeindebauten:
Lassalle-Hof (2. Bezirk)
Rabenhof (3. Bezirk)
Metzleinstaler Hof (5. Bezirk, der erste Gemeindebau 1919–1920)
Reumannhof (5. Bezirk)
Victor-Adler-Hof (10. Bezirk)
George-Washington-Hof (10. und 12. Bezirk)
Sandleitenhof (16. Bezirk; die größte Anlage mit 1.587 Wohnungen)
Karl-Marx-Hof (19. Bezirk; 1.325 Wohnungen)
Wohnhausanlage Friedrich-Engels-Platz (20. Bezirk; 1.467 Wohnungen)
Karl-Seitz-Hof (21. Bezirk, 1.173 Wohnungen)
Paul-Speiser-Hof (21. Bezirk, 469 Wohnungen)
Goethehof (heute 22. Bezirk, 727 Wohnungen)

Links:
https://www.wienerwohnen.at/wiener-gemeindebau
https://www.wohnpartner-wien.at/aktuelles/news/
https://www.rabenhoftheater.com/
http://dasrotewien-waschsalon.at/startseite/

 

Geschrieben von Stefan Weinbeisser