Sie hasst Max Frisch, findet Thomas Mann blöd und Günther Grass zu ungelenkig. Sibylle Berg kann es sich erlauben dem Kanon der männlichen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts eine freche Absage zu erteilen. Längst hat sich die deutsche Schriftstellerin mit zahlreichen Veröffentlichungen selbst am Literaturmarkt etabliert. Dabei polarisiert sie wie keine andere – und das seit Anbeginn ihrer literarischen Karriere. Mit ihrem Debüt „Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot“ landete sie 1997 (nach angeblich 50 Absagen diverser Verlage) einen ersten Publikumserfolg. Seit dem teilt sie ihren Kulturpessimismus mit tausenden von Lesern weltweit. In ihren Büchern und Theaterstücken wimmelt es vor unglücklichen Personen, die an sich und der Welt leiden. Ein weibliches Phänomen?

„Frauen erklären die Welt nicht, das steht uns nicht zu. Frauen schreiben über Depressionen“, bekennt Sibylle Berg salopp in dem neuen Dokumentarfilm des Duos Böller und Brod (Wiltrud Baier und Sigrun Köhler) „Wer hat Angst vor Sibylle Berg“, der am 10. Juni auch in den österreichischen Kinos anläuft. Derweil macht Frau Berg so viel mehr als eigene Lebensbefindlichkeiten zu erkunden und gescheiterte tête-à-tête mit Gasöfen zu skizzieren um sich damit in die Riege der großen traurigen Frauengestalten der Literaturgeschichte einzuordnen.

Obwohl, Stoff dafür gäbe es in ihrem Leben zur Genüge um die Seiten damit zu füllen. In jungen Jahren aus der DDR nach einer Puppenspielerausbildung geflohen, alkoholkranke Mutter, häufige Reisen, misslungene Ausbildung an einer „Clownschule“, ein Autounfall mit 30, fast eben so viele Gesichtsoperationen, Bestsellerautorin, eine der erfolgreichsten Kolumnistinnen Deutschlands, seit einigen Jahren auch am Theater aktiv und last but not least begeisterte Hausbesichtigerin. Letzteres etwas, das auch die Regisseurinnen zu spüren bekamen. Ihre Arbeit mit Sibylle Berg verglichen sie mit dem Verhältnis Hannibal Lecters mit der FBI Agentin Clarice Starling. Quid pro quo. Gefallen für Aufnahmen. Die Genehmigung für die Besichtigung des Lautner-Hauses in LA für eine Teilnahme an einem Dokumentarfilm. „Bringt ihr Doku-Schlampen mich da rein?“, soll Berg gefragt haben. Für Sigrun Köhler und Wiltrud Baier – zwei erfahrene und preisgekrönte Filmemacherinnen – offenbar kein Problem. Und los ging der Dreh. So zumindest legt es die im Pressetext zum Film überlieferte Entstehungsmär nahe.

Das passt zu Frau Berg, die neben ihrer großen Lust am Erzählen bei gleichzeitiger Dekonstruktion eine noch größere Freude an der charmant-sarkastischen Übertreibung pflegt. Frau Berg eben – so oder so ähnlich urteilt lapidar auch ihr Lektor um gleich danach seine (physische) Abneigung gegen Manuskripte kundzutun. Die Szene gehört zu einer Reihe unterschwellig ulkiger Episoden mit denen der Film aufwarten kann. Die deutsche Schauspielerin Katja Riemann und Jungautorin Helene Hegemann am Cross-Trainer im Park, eine Führung des wie die Karikatur eines amerikanischen Millionärs wirkenden Besitzers oben erwähnter Lautner-Villa oder reihenweise frech hingerotzte philosophisch anmutende Bemerkungen der Hauptprotagonistin – dadurch kommt während der 84 Minuten fast nie Langeweile auf. Ein besseres Verständnis von Sibylle Berg und ihrem Werk allerdings auch nicht, denn sie versteht es hervorragend sich Zuordnungen zu entziehen. Was ist Wahrheit, wann fängt die Übertreibung an: die Grenzen verlaufen fließend. Was ist Authentizität, fragt sie sich beiläufig stotternd an einer Stelle um schnell weiterzuziehen. Ein Leben im Fluss mit Ecken und Kanten –davon liefert uns Frau Berg und ihre „Doku-Schlampen“ reichlich.

Wer hat Angst vor Sybille Berg. Ein Film von Böller und Brod (Wiltrud Baier und Sigrun Köhler). DT 2015. 84 Minuten.

Kinostart: 10. Juni 2016
Filmcasino Wien
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Geschrieben von Sandra Schäfer