Schlecht für die Nerven, quälend vor Langeweile oder idealer Ort der Reflexion – das Bahnfahren ist im Laufe der letzten 180 Jahre schon als so manches bezeichnet worden. Für viele – darunter auch die Kulturfüchsin – ist es vor allem eines: Eine Möglichkeit sich uneingeschränkt ihrer Lektüre zu widmen. Warum also bei der nächsten Bahnfahrt nicht einmal das Thema Bahn selbst zur Lektüre zu machen – und bei der Rückfahrt gleich einen Artikel darüber schreiben. Gedacht – getan:

Was folgt ist eine durch eine lange Zugfahrt inspirierte Betrachtung einer Reihe von Texten über das befruchtende Wechselspiel von Literatur und Bahn – bot die Eisenbahn in der Vergangenheit doch auch schon jeder Menge anderer “Schreiberlingen” die nötige Inspiration.

Wie eine Kanonenkugel durch die Landschaft fliegen 

Gerade in den Anfängen des Zugwesens fielen die Reaktionen vieler Schriftsteller jedoch recht heftig aus. Viele brachten der Eisenbahn entweder tiefe Ablehnung oder himmelhochjauchzende Begeisterung entgegen. So findet man im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts neben euphorischem Technik-Enthusiasmus immer wieder auch von Skepsis getragene Wortmeldungen. Unter anderem zum Beispiel von dem englischen Schriftsteller, Maler und Bahngegner John Ruskin, der sich darüber beschwerte, sich wie ein Paket zu fühlen, das von einem zum anderen Ort verschickt werde. Bei weitem kein Einzelschicksal – kam es mit immer höher werdender Geschwindigkeit zu einer Veränderung der Wahrnehmung der Landschaft, die immer schneller an den Reisenden vorbeizog und in die man sich nicht mehr so recht einfühlen konnte. Die äußere Umgebung wurde den Reisenden zum vorbeiziehenden Panorama, der Zug zum Geschoss, das ähnlich einer Kanonenkugel die Landschaft durchschneidet. Ein Bild, das auch der österreichische Schriftsteller Nikolaus Lenau in seinen Zeilen zur Eröffnung der ersten österreichischen Dampfeisenbahn 1838 beschwört: „Bäume fallen links und rechts, wo sie vorwärts bricht (…) pfeilgeschwind und schnurgerade, nimmt der Wagen bald Blüt und Andacht unters Rad“, heißt es in dem Text.

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Gänzlich anders beschreibt der österreichische Dichter Anastasius Grün die Vorwärtsbewegung des Zuges durch die Landschaft. In seinem ein Jahr zuvor erschienenen 20-strophigen Gedicht „Poesie des Dampfes“ spricht er von einem „edlen freien Ross“, das „fliegend statt kriechend“ durch die Szenerie gleitet.

Der Mensch und die Bahn

Ein Eisenbahnbild, das hingegen von solchen und ähnlichen Dämonisierungen bzw. Romantisierungen völlig losgelöst zu sein scheint, liefert der Wiener Volksdramatiker Johann Nepomuk Nestroy. In seinem 1843 verfassten Stück „Eisenbahnheiraten oder Wien, Neustadt, Brünn“ wird der Zug zum Instrument einer Komödie der Irrungen und Wirrungen. Trotz aller technischer Errungenschaften, so vermittelt uns Nestroy, bleibt der Mensch seinem Wesen treu. Und dieses ist, zumindest was die Protagonisten von Emil Zolas Roman „La Bête Humaine“ betrifft, vom harten Überlebenskampf geprägt. Der französische Naturalist beschreibt darin die schlechten Lebensbedingungen der Bahnangestellten. Die Bahn wird zum Gegenstand menschlichen Leides, die Lok zum Sinnbild der auf den Menschen einwirkenden äußeren gewaltigen Umstände.

(Zug-)Reise ins Innere

Ins menschliche Innere führt uns im Gegensatz dazu der Zug bei Arthur Schnitzler. Der Wiener Dramatiker schuf in seinem Stück „Frau Bertha Garlan“ im Jahre 1901 den ersten freudianisch konstruierten Traum der Weltliteratur. Und geträumt wird er von der Protagonistin in der Eisenbahn. Welcher Ort wäre besser geeignet. Langsam rüttelt die Bahn ihre Protagonistin in den Schlaf. Den in den Traum integrierten Weckreiz – mit den Worten „plötzlich bläst ihr Herr Klingemann auf die Augen“  – lässt Schnitzler elegant vom Fahrtwind eines vorbeifahrenden Zuges auslösen.

Ein weiterer Text jener Zeit, bei der ein Einblick in die psychische Verfassung der Hauptfigur während einer Eisenbahnreise gegeben wird, ist Richard Beer-Hofmanns Novelle „Der Tod Georgs“. Während einer Bahnreise reflektiert Paul über den Tod seines Freundes und kommt zu dem Ergebnis, dass dessen Tod ein Geschenk der Götter sei, da dieser nie den Abscheulichkeiten des Alters ausgesetzt sein wird. Paul schafft es nicht, die Umgebung, durch die der Zug fährt, wahrzunehmen. Die vorbeirasenden Objekte werfen den Dandy – ähnlich wie das Abbild im Zugfenster – immer nur auf sich selbst zurück. Die Bahn als Metapher, um innere Entwicklungen seiner Protagonisten zu verdeutlichen, findet man hingegen häufig bei Heimito von Doderer. In „Ein Mord den jeder begeht“ von 1938 beschreibt er einen Unfall, den die Hauptfigur Konrad in seiner Jugend in der Eisenbahn erlebt. Später wird ihn der Unfall auf tragische Weise einholen und den Anschein erwecken, dass Konrads Leben wie ein Zug auf Schienen seinem Schicksal entgegengerast ist. Der Roman ist zwar nicht im Feld der Krimiliteratur zu verorten, trägt aber durchaus die Züge jenes Genres, das Agatha Christie zu Weltruhm verhalf. Zu ihren bekanntesten Geschichten zählt ohne Zweifel „Mord im Orientexpress“. Das Buch liefert nicht nur einen Mordfall, an dem der berühmte Inspektor Hercule Poirot – und mit ihm die LeserInnen – zu kiefeln haben, sondern verdeutlicht zugleich einen weiteren wichtigen Aspekt, der beim Thema Bahnfahren deutlich zu Tage tritt: die Reisegesellschaft. Auch diese erfuhr mit der Entwicklung der Eisenbahn eine deutliche Veränderung.

Wenn Menschen aufeinandertreffen 

Saß man vor der Erfindung der Eisenbahn mit einer Gruppe von Menschen für längere Zeit in der Kutsche fest, während die Landschaft gemächlich an einem vorbeischaukelte, so führten die dank Bahn kürzer gewordenen Fahrzeiten mit ihren diversen Zwischenstopps (tatsächlich überzogen auch immer mehr Bahnhöfe das Land) zu sich rascher veränderndem Publikum. Schon Joseph von Eichendorff beschreibt das Zugabteil als „fliegenden Salon“, der „immer andere Sozietäten bildet, bevor man die alten recht überwunden“. Um seinem unbekannten Gegenüber nicht die ganze Zeit in die Augen blicken zu müssen und um verlegenes Zu-Boden-Schauen zu vermeiden, blieb einem angesichts der vorbeirauschenden Landschaft oftmals nur der Griff zur mitgebrachten Reiseliteratur. Und diese bestand nach einer anfänglichen Phase von Streckenbeschreibungen vor allem aus dem Feuilleton oder anderer leicht zu lesender Lektüre. Ein Umstand, der der Reiseliteratur den bis heute immer wieder ertönenden Vorwurf eintrug, Seichtes zu befördern.

Doch ob seicht oder nicht, eine wichtige Voraussetzung zum Lesen war und ist die richtige Beleuchtung. Ab den 1860er Jahren boten Gasbeleuchtungen und ab 1880 die elektrische Beleuchtung eine Steigerung des Reisekomforts. Eine weitere Verbesserung in puncto Bequemlichkeit bot die Einführung des Durchgangswagons, der es den Reisenden nun auch erlaubte, das zuvor nur von außen zugängliche Abteil zu verlassen und im Zug umherzuwandern, um die ebenfalls neu eingeführten sanitären Einrichtungen sowie den Speisewagon aufzusuchen. Ein Luxus, der im bereits zuvor erwähnten Orientexpress gipfelte.
Es ging in der Literatur aber auch anders. Das traurige Gegenteil einer solchen luxuriösen Reise bilden die Beschreibungen des israelischen Autors Aharon Appelfeld, der in seinem Roman „Badenheim“ den Abtransport der jüdischen Bevölkerung mittels Viehwagons beschreibt. Das wohl dunkelste Kapitel der Bahn, die Millionen von Menschen in die nationalsozialistischen Konzentrationslager deportierte.


Verwendete “Reiselektüre”:

  • Hädecke, Wolfgang: Poeten und Maschinen. Deutsche Dichter als Zeugen der Industrialisierung. Carl Hanser Verlag
  • Segeberg, Harro: Literatur im technischen Zeitalter. Von der Frühzeit der deutschen Aufklärung bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt
  • Mahr, Johannes: Eisenbahnen in der deutschen Dichtung. Der Wandel eines literarischen Motivs im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert. Wilhelm Fink Verlag München
  • Ruso, Monika: Die Bedeutung der Eisenbahn – Darstellung in Heimito von Doderers Werk für die Interpretation. Diplomarbeit. Wien: 1995
  • Fliedl, Konstanze: Prosa der Jahrhundertwende. Skriptum zur Vorlesung WS 1997/98
  • Haug, Christine: Reisen und Lesen im Zeitalter der Industrialisierung. Wiesbaden: Harrassowitz 2007

Geschrieben von Sandra Schäfer