Wien war jahrhundertelang das Herz der Habsburger Monarchie. Einerseits blühende Metropole mit tiefgreifenden Impulsen im Bereich der Kultur und Kunst, der Architektur, andererseits in weiten Bereichen von Armut und Not gekennzeichnet. Bis zur ersten Wahl nach dem Ersten Weltkrieg stets von konservativen bzw. nationalen Parteien dominiert und regiert. Die politische Situation änderte sich schlagartig mit der ersten freien Gemeinderatswahl – Stichwort allgemeines und gleiches Wahlrecht für Frauen und Männer – am 4. Mai 1919, als die Sozialdemokratische Partei mit deutlich über 50 Prozent der Stimmen stärkste politische Kraft vor den Christlich Sozialen Partei wurde und das große Reformwerk des Roten Wien in Angriff genommen wurde.
Roter Bürgermeister in Wien, roter Landeshauptmann in Niederösterreich
Einen weiteren herben Rückschlag für die Christlich Soziale Partei gab zudem bei der gleichzeitig stattgefundenen Landtagswahl am 4. Mai in Niederösterreich. Da Wien damals noch Teil des flächengrößten Bundesland war und seine WählerInnen mehrheitlich für die Sozialdemokratie votierten und sich diese damit insgesamt als stärkste politische Kraft in Niederösterreich etablierte und mit Albert Sever den ersten – und bislang einzigen – roten Landeshauptmann von Niederösterreich stellte, wirkte diese Situation wie ein Schock für die von bäuerlichem Habitus und katholischem Gedankengut geprägte Christlich Soziale Partei.

Tiefer Graben zwischen Konservativen und Sozialdemokratie

Die diametralen Vorstellungen der Konservativen und der Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschösterreichs (SDAP) – so nannte sich die Vorgängerpartei der heutigen SPÖ von 1918 bis 1934 – über die Gestaltung der Gesellschaft mündeten letztlich in die von den Christlichen Sozialen und in weiten Bereichen der Katholischen Geistlichkeit mit Intensität betriebene politische, verwaltungstechnische und flächenmäßigen Trennung. Aber auch in der SDAP gab es gewichtige Stimmen für Wien als eigenes Bundesland. Wohl vor allem deshalb, um das entworfene Modell des Roten Wien realisieren zu können. Tatsache ist, dass in der Zeit sozialdemokratischer Handschrift in der Stadt von 1919 bis 1933 bemerkenswerte kommunalpolitische Meilensteine im Bildungswesen, im Gesundheitsbereich, im Wohlfahrts- sowie im Wohnungswesen umgesetzt werden konnten. Das Rote Wien wurde weltweit zum Pionier, zum Synonym für erfolgreiche Stadtgestaltung.

Nach Trennung Steuerhoheit und Aufschwung für Wien

Die Trennung war jedenfalls für die weitere Entwicklung Wiens sehr bedeutsam, da die Stadt nunmehr Steuerhoheit besaß und von dieser in Form von so genannten „Reichensteuern“ auch intensiven Gebrauch machte. Mit den lukrierten Einnahmen, u. a. aus der Wohnbausteuer, wurde die große Gemeindewohnbau-Initiative finanziert und bis 1934 60.000 Wohnungen in „Licht, Luft und Sonne“ für einkommensschwächere Bevölkerungsschichten errichtet.

Bürgermeister und Landeshauptmann in Personalunion

Am 10. November 1920 trat das Bundes-Verfassungsgesetz als Kern des österreichischen Verfassungsrechts in Kraft und definiert seither Wien als eigenes Land. Aus diesen Gründen enthält die ebenfalls am gleichen Tag beschlossene und am 18. November 1920 in Kraft getretene Wiener Stadtverfassung einen Abschnitt über Wien als Land. Der Bürgermeister der Stadt (als Landeshauptmann) und der Gemeinderat (als Landtag) nehmen die Landeskompetenzen Wiens wahr. Am 1. Jänner 1922 trat schießlich auch das die letzten vermögensrechtlichen Regelungen der Trennung von Niederösterreich enthaltende Trennungsgesetz in Kraft, weshalb oft dieses Datum irrtümlicherweise als Gründungsdatum des Landes Wien genannt wird. Bereits nach dem 10. November 1920 bestand keine gemeinsame Landesregierung mehr. Seither bildet Wien – ausgenommen die Zeit 1934 bis 1945 („bundesunmittelbare Stadt“ im Austrofaschismus, „Reichsgau“ unter nationalsozialistischer Herrschaft) – ein eigenes Land. Heute stellt wohl niemand mehr den Trennungsschritt von 1920 in Frage.

Geschrieben von Stefan Weinbeisser