Sein bemerkenswerter Lebensweg war ihm alles andere als in die Wiege gelegt. Von seiner Geburt als eines von 17 (!) Kindern einer Bauernfamilie in Untertannowitz in der heute Tschechischen Republik am 14. Dezember 1870 bis zu seinem Ableben als Bundespräsident Österreichs am Silvesterabend 1950 verkörperte Karl Renner eine von tiefen geopolitischen Umbrüchen gezeichnete Epoche.
Es war ein besonders wechselvolles Zeitalter, das vom Ersten Weltkrieg, dem Zusammenbruch des Habsburger Großreiches 1918, heftigen Währungsturbulenzen der zwanziger Jahr, den dramatischen Auswirkungen der großen Weltwirtschaftskrise ab 1929, dem Austrofaschismus, der darauffolgenden Annexion Österreichs durch das nationalsozialistische Deutsche Reich im März 1938, dem Zweiten Weltkrieg und schließlich der Wiedergeburt Österreichs im Jahr 1945 geprägt gewesen ist.

Einer der „Säulenheiligen“ der SPÖ

Karl Renner gilt als herausragende Persönlichkeit sowohl der Gründung der Ersten wie ebenso der Zweiten Republik und deren Ausgestaltungen. Für die österreichische Sozialdemokratie ist er gewissermaßen einer ihrer „Säulenheiligen“. Dabei war sein jahrzehntelanges Wirken in der Politik auch von Widersprüchlichkeiten und so manchem Unverständnis geprägt. Sein „Ja“ zum Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich im Jahr 1938 ist das auch heute noch intensiv diskutiert, weil ein besonders markante Beispiel dafür.
Was den demokratisch denkenden wie ebenso handelnden Renner dazu bewogen hatte, ist noch immer Gegenstand von Mutmaßungen von Historikerinnen und Historikern. Während die einen meinen, er wollte damit seiner Familie Sicherheit vermitteln, meinen andere wiederum, dass Renner den Anschluss vor dem Hintergrund des von vielen seiner Landsleute ersehnten historische Ereignisses im Sinne eines Zusammenschlusses der deutschsprachigen Bevölkerung bewertete und dies eben derart artikulierte.
Bereits unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Monarchie hatte die Regierung Deutschösterreichs die Meinung vertreten, dass das Land ein Bestandteil der Deutschen Republik sei und dies auch bei den Friedensverhandlungen in St. Germain 1919 deponiert, was allerdings von den Allliierten letztlich verworfen wurde.

Der große Bruder als einziger Rettungsanker?

In weiten Bevölkerungskreisen herrschte die Meinung, dass der junge Staat, abgeschnitten von seiner vormaligen Industrieregion Tschechien mit u.a. seinen fossilen Bodenschätzen, der Korn- und Gemüsekammer Ungarn, nicht lange – vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht – lebensfähig sein könne.
Um dieses Einschätzung zu beurteilen, muss man die Dimensionen der damaligen drastischen Veränderungen beleuchten, Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war Österreich-Ungarn flächenmäßig nach Russland der zweitgrößte Staat Europas. Das Territorium der Habsburgermonarchie umfasste damals rund 680.000 Quadratkilometer, auf denen eine Bevölkerung von etwas mehr als 52 Millionen Menschen lebte. Ende 1918 war das Kernland Österreich auf weniger als 15 Prozent des k.u.-k-Reiches geschrumpft, die Einwohnerzahl betrug 6,4 Millionen. Es ist also durchaus erklärbar, weshalb von vielen die Vereinigung mit dem großen Bruder Deutschland als naheliegender, geradezu einziger Rettungsanker betrachtet wurde. Unzutreffend ist es jedenfalls, Renner wegen seiner Befürwortung des Anschlusses an Deutschland 1938 den Mantel eines Anhängers des NS-Gedankenguts umzuhängen.

Außergewöhnlicher Bildungsweg

Außergewöhnlich ist jedenfalls auch der Bildungsweg Karl Renners gewesen. Dank eines Stipendiums konnte der begabte Bauernerbub ein Gymnasium besuchen und schließlich in Wien Rechtswissenschaften studieren. 1895 erfolgte eine Anstellung in der Parlamentsbibliothek. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits vielschichtige Kontakte zu führenden Persönlichkeiten der Sozialdemokratie. Er war zudem u. a. Mitbegründer der Naturfreunde, denen er Zeit seines Lebens eng verbunden gewesen ist.
Renner war bereits vor der Wende zum 20. Jahrhundert ein fleißiger Verfasser politischer Schriften, sein Interesse galt vor allem Fragen der von der Sozialdemokratie besonders betonten Sozialpolitik, der Wirtschaftspolitik sowie der nationalen Frage, in der er als Befürworter sich einer am Föderalismus orientierenden Neuordnung der österreichisch-ungarischen Monarchie auftrat. Mit 37 Jahren, also 1907, wurde Renner erstmals in den Reichsrat gewählt und 1911 zum Obmann des Zentralverbandes der österreichischen Konsumvereine bestellt.
Staatskanzler einer Regierungskoalition der politischen Kontrahenten
Ein Meilenstein im politischen Leben Renners war nach dem Zusammenbruch der Monarchie seine vom Staatsrat am 30. Oktober 1918 bestellte Ernennung zum Staatskanzler. Für die Wahl der konstituierenden Nationalversammlung Deutsch-Österreichs vom 16. Februar 1919 wird ein eigenes Wahlgesetz auf der Basis des allgemeinen, gleichen, geheimen Wahlrechts geschaffen. Frauen dürfen zum ersten Mal wählen. In der Märzverfassung wird die parlamentarische Demokratie festgeschrieben. Das Land heißt ab nun „Österreich“ und nicht „Deutsch-Österreich“.

Renner oblag nach der Wahl die Bildung einer Regierung. Ein schwieriges Unterfangen, das letztlich gelang. Staatskanzler Renner führte die Koalition zwischen der katholisch, bäuerlich und vom Bürgertum geprägten Christlich Sozialen Partei und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei von 1919 bis zur Auflösung 1920. Die Christlichen Sozialen Politiker hatten auf die Aufkündigung gedrängt. Es war also eine kurzlebige Koalition, die letztlich an der tiefen weltanschaulichen Kluft und dem daraus resultierenden Streit zwischen den zwei ungleichen Partnern scheiterte.
Von 1918 bis 1919 war Renner Mitglied der Provisorischen und von 1919 bis 1920 Mitglied der Konstituierenden Nationalversammlung. Er fungierte zudem als Leiter der österreichischen Friedensdelegation von St. Germain. Der Vertrag von Saint-Germain im Spätsommer 1919, der im Juli 1920 in Kraft trat, bestätigte die Auflösung Österreich-Ungarns auch völkerrechtlich und regelte die Bedingungen für die neue Republik. Mit dem Vertrag wurde u.a. – wie bereits oben erwähnt – der Anschluss Österreichs an Deutschland untersagt.
Nach seiner Tätigkeit als Regierungschef war Renner bis 1923 und anschließend wieder von 1931 bis 1933 Präsident des Nationalrates, dem er von 1930 bis zur Etablierung des Austrofaschismus 1934 auch als Abgeordneter angehörte. Innerhalb seiner Partei widmete sich Karl Renner hauptsächlich wirtschaftlichen Aufgaben, v.a. in den Konsumgenossenschaften und in der 1922 gegründeten Arbeiterbank, deren Initiator und Präsident er war. In den 60er Jahren des vergangen Jahrhunderts wurde das Geldinstitut schließlich in Bank für Arbeit und Wirtschaft (BAWAG) umbenannt.

Flügeldebatten in der Sozialdemokratie

Die Sozialdemokratie in der Ersten Republik war jedenfalls kein monolithischer Meinungsblock, sondern nicht selten von teils heftigen innerparteilichen Debatten über den Weg zur Erreichung der Zielsetzung einer gerechten, sozialen Gesellschaft geprägt. Im Parteivorstand galt Renner stets als ein Exponent des „rechten Flügels“, während der Fraktionsobmann im Parlament und führende geistige Kopf der Sozialdemokratie, Otto Bauer, den „linken Flügel“ und damit die Verfechter der marxistisch-materialistischen Geschichtsauffassung und die daraus abgeleitete angestrebte gesellschaftlichen Entwicklung repräsentierte.

1934: Haft wegen angeblichen Hochverrats

Am 12. Februar 1934 wurde Karl Renner im Zuge der blutigen Bürgerkriegsereignisse verhaftet und für hundert Tage in Haft gehalten; die Anklage wegen Hochverrats wurde allerdings wieder fallengelassen. Renner zog sich in der Folge nach Gloggnitz in Niederösterreich (dort befindet sich auch das dem Wirken des Staatsmannes gewidmete Dr. Karl Renner-Museum für Zeitgeschichte) zurück und befasste sich hauptsächlich mit wissenschaftlichen Arbeiten.

1945 für wenige Monate wiederum Staatskanzler

Als die Rote Armee im April 1945 auch Gloggnitz besetzte, nahm Renner unmittelbar Kontakt mit der sowjetischen Kommandantur auf. Noch ist nicht zweifelsfrei geklärt, ob der sowjetische Machthaber Stalin persönlich entschieden hat, dass Karl Renner mit der Wiederherstellung eines selbständigen Staates Österreich betraut werden sollte. Renner wurde schließlich – wie schon 1918 – 1945 wiederum Staatskanzler.
Die neue Regierung wurde am 27. April im Wiener Rathaus gebildet und noch am selben Tag von den Sowjets anerkannt. Ihr Wirkungsbereich umfasste zu diesem Zeitpunkt außer Wien allerdings nur das östliche Niederösterreich, den Großteil des Burgenlandes und einen Teil der Steiermark – im Westen wurde noch gekämpft. Die wichtigste Aufgabe Karl Renners bestand nun darin, die Anerkennung seiner Regierung durch die Westmächte. In einer Konferenz am 24. und 25. September 1945 wurde die Regierung Renner als gesamtösterreichisch anerkannt. Renner hatte sich einmal mehr als geschickter Verhandlungspartner erwiesen. Sein Verdienst ist es zudem, dass in Österreich als erstes im von den Nazis befreiten Land in Europa bereits Ende November 1945 landesweite demokratische Wahlen abgehalten werden konnten.

Erster Bundespräsident der Zweiten Republik

Am 20. Dezember 1945 wurde Karl Renner von der Bundesversammlung – dem neugewählten Nationalrat und dem Bundesrat – einstimmig zum ersten Bundespräsidenten der Zweiten Republik gewählt. Die Direktwahl des Staatsoberhauptes durch die Bevölkerung fand übrigens erstmals 1951 statt. Als Bundespräsident war Renner in den Jahren 1945 bis 1950 eine Integrationsfigur und ein ständiger Mahner zu Zusammenarbeit, Erhaltung der Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Wiedererlangung der Souveränität.
Heute erinnern an den zweifachen Baumeister der Republik Österreich Karl Renner einige Denkmäler und Namensgebungen, so u. a. der nach einem Entwurf von Josef Krawina und von Alfred Hrdlicka gestalteten Porträtkopf im Wiener Rathauspark. Nach dem früheren Spitzenpolitiker wurden auch der Dr.-Karl-Renner-Ring und die politische Akademie der SPÖ, das Karl-Renner-Institut, benannt. Seine letzte Ruhestätte fand der Politiker in der so genannten Bundespräsidentengruft auf dem Zentralfriedhof, die als Symbol für die Republik in Abgrenzung an die traditionelle Begräbnisstätte der Habsnurger, die Kapuzinergruft, mit Karl Renner als ersten Bundespräsidenten angelegt wurde.

Titelbild: Karl Renner als Österreichischer Bundespräsident 1948 © ÖNB / Hilscher

Geschrieben von Stefan Weinbeisser