Eine Lücke sein, die zu verbinden sucht, wie ein Stern im Hier und doch weit weg, ein Kampf für das, was man noch weiß: es sind poetische Worte, mit denen Bärbel Strehlau das Krankheitsbild der Demenz zu ergründen versucht. Erlebt hat die Autorin ihren Verlauf hautnah, im eigenen familiären Umfeld. 2015 wurde bei der Mutter eine Demenzerkrankung diagnostiziert. Die damit in Zusammenhang stehenden Erlebnisse und Erfahrungen hat Strehlau im Stück „Die Zeit verkehrt herum tragen“ im Kosmos Theater auf die Bühne gebracht – und das in einer wunderbar feinfühligen, menschenwürdigen und oftmals humorvollen Weise. In den rund (mit Pause) zwei Stunden des Abends wird mitunter getanzt, gelacht, sich gelegentlich vor Verzweiflung auf dem Boden gewälzt – doch vor allem wird die Nähe der Mutter zur Tochter (Mareile Metzner und Sabrina Strehl) und umgekehrt gesucht. Letztere ist kurzzeitig in die Seniorenresidenz eingezogen, nachdem der Vater wegen einer Krebserkrankung ins Spital musste. Immer wieder flammt die Sorge auf, dass dieser nicht mehr in der Verfassung sein wird, sich um die Mutter zu kümmern. Ein Pflegezimmer steht nur kurze Zeit zur Verfügung, eine Entscheidung muss getroffen werden. Doch die ältere Schwester glänzt durch Abstinenz und Kaltherzigkeit. Was vorgefallen ist erfährt man nicht.

Mit der Thematik der Erkrankung greift Strehlau nicht zuletzt mitten hinein in die Familien(-Strukturen). Thematisiert wird das Ausgeliefertsein (der Kranken und Angehörigen) ebenso wie das Unvermögen, seiner eigenen Vergangenheit zu entkommen. So gelingt es der Schwester nicht ihren Groll gegen den Vater zu besänftigen, während die Mutter ihr Leben wie einen übergroßen Rock, aus dem sie hinausgewachsen ist, hinter sich her schleift.
Wer ist man, wenn man sich nicht mehr daran erinnern kann, wer man war/ist? Auch wenn es mit der Erinnerungsfähigkeit hapert, die Fähigkeit zu fühlen bleibt. Gemeinsam – und doch jede für sich – versuchen Mutter und Tochter – unterstützt von einer Puppe aus der Sammlung der Mutter (quicklebendig Else Hennig mit Maske) zu verstehen, was mit dem Gehirn bei Demenz geschieht. Gelegentlich gesellen sich zu den Worten Visualisierungen: Man schwimmt zu dritt (Mutter, Tochter und Puppe) durch die Gehirn-Suppe oder begibt sich via Videoeinspielung zum Gang auf die Pflegestation – da kann einem verständlicherweise schon mal das Wörtchen „Scheiße“ entfahren: „Dass ich einmal so enden würde hätte ich nicht gedacht“. Etwas, das vermutlich jeder/m von uns widerfahren könnte. Im Programmheft liest man, dass sich bis 2050 die Rate der Demenzkranken weltweit von aktuell rund 57 Millionen auf 153 Millionen verdreifachen soll. Die wunderbare Bearbeitung des Themas von Strehlau liefert jedenfalls Hoffnung. Auch wenn das Ende dann doch etwas auf die Tränendrüse drückt, so hätte es mit einem via Video getätigten Blick in das Leben der Eltern keinen besseren Schluss geben können. (Eine Installation im Barbereich zeigt zudem weitere Videoaufnahmen der Eltern Strehlaus.)
„Die Zeit verkehrt herum tragen“ mag zwar die „Chronik des Verlustes von Fähigkeiten“ sein, doch ist es nicht zuletzt auch die Chronik von Liebe und Verständnis und des sich umeinander Kümmerns, wunderbar gespielt und mit einem gelungenem Bühnenbild in Szene gesetzt.

Die Zeit verkehrt herum tragen
Ein dokumentarisch-poetisches Theaterstück
von Bärbel Strehlau
Weitere Termine: 1., 2., 5., 6., 7., 12., 13., 14. Dezember um 20:00 Uhr
Kosmos Theater
Siebensterngasse 42
1070 Wien
www.kosmostheater.at

Titelbild: Die Zeit verkehrt herum tragen © Bettina Frenzel

Geschrieben von Sandra Schäfer