Er ist der Inbegriff der heimeligen Gemütlichkeit – der Jumpsuit-Pyjama. Vom Altherren-Unterwäsche-Modell, das man aus so manch alten Schwarz-Weiß-Filmen kennt, über die modische Girly-Variante, wie sie in Modekatalogen schmackhaft gemacht wird, bis hin zum Kinderschlafanzug. Dass der häusliche Einteiler mittlerweile auch als Bühnenoutfit gesellschaftlich brisanten Stoff bietet, hätte vor ein paar Monaten – zumindest hierzulande – vermutlich wohl kaum jemand gedacht. Dass das erste Bühnenkostüm, das man nach Wochen der Corona bedingten Isolation und der erzwungenen Theaterabstinenz sieht, ein Schlafanzug ist, vermutlich auch nicht.

Rund 80 Minuten performt Schauspielerin und Co-TheaterArche-Leiterin Manami Okazaki im kindlich schlabbrigen Modell – zeitweise mit einem matrosenartigen (Schuluniform)Oberteil überdeckt – und lässt damit (dank Schlafanzug – nicht Matrosenanzug) unweigerlich so manche Erinnerung an die Isolation der vergangenen Wochen lebendig werden.
Im Theaterbereich kehrt nun also endlich wieder Leben ein – als eines der ersten Theater hat die TheaterArche mit 29. Mai wieder den Spielbetrieb aufgenommen. Wagemutig haben sich mittlerweile die ersten Besucher und Besucherinnen im halb gefüllten Zuschauerraum eingefunden und ihre – ihnen im verordneten Mindestabstand zugewiesenen Sitze – eingenommen. Für die Theater ein finanzielles Verlustgeschäft – für die Gäste immerhin mehr Beinfreiheit links und rechts.

Rückzug aus dem System

Von derlei gesellschaftlichen Beschränkungen unbelastet agiert Manami Okazaki alleine – und wie sich in Folge des Stückes zeigt zudem als Einsame – auf der Bühne. In der Abgeschiedenheit ihres (Bühnen)-Zimmers putzt sie Zähne, betrachtet alte Fotos, spielt auf diversen Instrumenten und mit Spielzeugautos oder sinniert einfach nur über das Leben. Wer kennt das nicht: aufstehen, den Kopf voller Pläne für den Tag – doch die Stunde rinnen dahin und die Vorsätze schmelzen davon. „Es wachsen sich Gedanken zu Gängen aus“ – so lautet eine der Beschreibungen eines Gefühlzustandes in der selbsterwählten gesellschaftlichen Abgeschiedenheit. Sätze, die wie poetische Felsen aus der Trägheit des täglichen Isolations-Daseins herausragen. Zum Stück montiert wurden sie im (Mail)-Austausch zwischen den Autoren Thyl Hanscho und Sophie Reyer. Auch wenn sich die von den Autoren erdachten Aussagen – allen voran „du hast mich berührt, ich bin ein Splitter von Angst“ – leicht als Reaktion im Umgang mit und auf Corona hineininterpretieren lassen – entstanden ist „Hikikomori“ bereits vor dem Lockdown.

Rund ein Jahr ist es her als in Regisseur und TheaterArche-Leiter Jakub Kavin die Idee keimte, ein Stück über ein gesellschaftliches Phänomen zu machen, das im Japanischen als „Hikikomori“ bezeichnet wird. „Hikikomori“ – was so viel wie Rückzug bedeutet – sind jene Menschen, die dem gesellschaftlichen Leben freiwillig den Rücken kehren und ihr Haus oder ihr Zimmer nicht mehr verlassen. Zumeist handelt es sich dabei (der Kurzhaarschnitt und das jugendlich-kindliche Outfit der Schauspielerin lassen es erahnen) um junge Männer, die sich überfordert von den täglichen Anforderungen des Ausbildungssystems, des neoliberalen Wettbewerbs eine Auszeit nehmen. Nicht arbeiten, nicht studieren – wer es sich leisten kann wird im Kinderzimmer des elterlichen Heims durchgefüttert. Wer einen Hikikomori bei sich zu Hause hat, spricht – man kann sich’s denken – nicht gerne darüber. Der Mensch hat zu funktionieren. Jedoch nicht nur in Japan heißt es im Gleichklang schwingen mit dem System. Jeder hat einer Note gleich seinen Patz. In/im „Hikikomori“ scheint das „System gestört. Das Leben hat – wie Beethovens auf der Bühne in Auszügen dargebotenes Stück „Für Elise“ – Brüche und Dissonanzen. Der Hikikomori ist aus dem Gefüge gefallen. Bis er erneut seinen Platz in der Gesellschaft findet, wird um das eigene Selbst gekreist. Solange Bewegung – solange Hoffnung – so (oder so ähnlich) lautet eine der Botschaften, die mantraartig in den Zuschauerraum hallen. Der Applaus am Ende erfolgt verdient. Wohin sich unsere Gesellschaft bewegt darüber kann anschließend im Freien diskutiert werden.

Hikikomori
Weitere Termine: 11., 12., 13., 18., 19., 20., 21., 25., 26., 27. Juni sowie 2. bis 4. Juli 2020

Theater Arche
Münzwardeingasse 2
1060 Wien
www.theaterarche.at

Titelbild: Manami Okazaki in Hikikomori © Jakub Kavin

Geschrieben von Sandra Schäfer