Wer heute über den Stephansplatz spaziert, dem präsentiert sich ein anderes Bild als beispielsweise vor 400 Jahren, als hier Heiltumstuhl und Maria-Magdalena-Kapelle standen. Ersterer war 1699, als Verkehrshindernis, abgetragen worden, zweitere fiel Ende des 18. Jahrhunderts einem Brand zum Opfer. Dass beide Gebäude zumindest zeitweise in neuer Pracht erstrahlen, ist Franco Lanfur zu verdanken. Der Architekt, Entwickler von virtuellen Architekturmodellen und Gründer von „VARS” hat gemeinsam mit Miriam Weberstorfer von „ArchäoNOW“, ein Konzept für Europas erste Augmented-Reality-Rätselrallye entwickelt. Die Kulturfüchsin traf die umtriebigen Wissensvermittler zum Interview. Ein Gespräch über erste Treffen, die Fähigkeit zu Staunen und die Leidenschaft für Geschichte(n).

Seit vergangenem Jahr betreibt ihr Europas erste Rätselrallye mit AR-Technologie. Könntet ihr kurz etwas über die Entstehung von„ArchäoNOW“ erzählen und wie kam es zur Erweiterung des Angebots mit Augmented Reality?

Miriam: Ich habe im Zuge meines Studiums der Ur- und Frühgeschichte so wie der Anthropologie am Naturhistorischen Museum gearbeitet. Irgendwann habe ich mir überlegt, dass es doch eine Möglichkeit geben muss, wie ich meine Leidenschaft für alte Sachen, dieses ganze Wissen, das es da gibt, auf spannende Art und Weise weiter vermitteln kann. Also habe ich mit den Rätselrallyes angefangen. Worum es mir geht, ist den Entdeckergeist bei den Leuten zu wecken; Dinge eben nicht nur im Rahmen von Führungen zu vermitteln, sondern sie spielerisch erlebbar zu machen.

Franco: Mich hat dieses Spielerische, das Interaktive, von dem Miriam spricht, sofort angesprochen. Ich bin auf ihre Firma „ArchäoNow“ im Internet gestoßen, als ich mich nach meinem Studium auf die Suche nach Partnern gemacht habe. Ich habe Architektur studiert und mich in meiner Masterarbeit mit der Visualisierung alter Gebäude mittels Augmented Reality beschäftigt. Mein Ziel war es, meine Modelle mit anderen Menschen zu teilen. Also habe ich Miriam eine Message geschickt, ob sie Interesse hätte mein Demo zu sehen…

Miriam: … ich dachte mir sofort „wow“, als ich die Visualisierungen von Franco gesehen habe. Ich hatte schon vorher von Augmented und Virtual Reality gehört, aber es war mir nicht bewusst, dass es möglich ist das Ganze mit Stadttouren zu verbinden. Ich habe mich wieder wie ein Kind gefühlt, das neue Dinge entdeckt. Und da hatten wir diese Gebäude noch nicht einmal in Lebensgröße in die Stadt gestellt. Es war wirklich der Perfect Match. Unser Ziel war es, alles in einem halben Jahr fertig zu stellen und die Ersten in Europa zu sein, die das machen. Was uns tatsächlich gelungen ist.

Franco, du kommst ursprünglich aus Guatemala. Gab es für dich ein bestimmtes Aha-Erlebnis oder war es einfach die Faszination für Geschichte, die dich auf die Idee gebracht hat, diese alten Gebäude wieder zugänglich zu machen?

Franco: In Guatemala haben wir kein Mittelalter. Auf der Uni in Wien haben wir unzählige Bilder und Modelle dazu gesehen. Es war für mich ein unglaubliches Gefühl danach durch die Stadt zu spazieren, mit all diesen Bildern in meinem Kopf. Ich wollte meinen Freunden vermitteln, wie anders Wien, zum Beispiel vor 300 Jahren, ausgesehen hat. Aber es fiel mir schwer, das mit Worten zu beschreiben. Irgendwann bin ich dann beim Stubentor gestanden und habe dieses kleine schwarze Wien-Modell mit der Stadtmauer gesehen. Ich habe mich umgedreht und die echte Stadtmauer vor der Stubentor-Station erblickt und plötzlich waren diese Bilder, die ich im Studium gesehen hatte, von der Mauer und den Toren in meinem Kopf und ich konnte mir alles vorstellen. Ich habe dann auf Google ein interessantes Bild gefunden, wo man das alte Stubentor anhand der Ruinen, die dort stehen, erkennen kann. Ich dachte, das wäre cool diese Strukturen nachzubauen und mittels AR dort zu platzieren. So könnte ich meinen Freunden zeigen wie das ausgesehen hat.

Könntet ihr vielleicht kurz erklären wie Augmented Reality (AR) funktioniert? Wie schafft man es, dass die TeilnehmerInnen der Rätselrallye vor der Maria-Magdalena-Kapelle stehen und sich auch um diese herumbewegen können? Wie habt ihr die Auswahl für die Gebäude getroffen?

Franco: Einen Teil der Gebäude hatte ich schon im Zuge meines Studiums synchronisiert. Zum Beispiel die Maria-Magdalena-Kapelle, die du angesprochen hast. Um ein solches Gebäude virtuell auf den Platz zu stellen, brauche ich zunächst einmal Referenzpunkte in der Stadt, so genannte Triggerpunkte. Wenn das Handy – also die Kamera in Verbindung mit der App – den Platz wiedererkennt, dann weiß die App wie die 3D-Modelle dargestellt werden müssen. Zudem gibt es einen so genannten Motion Tracking Algorithm, der bewirkt, dass wir uns frei um das Modell bewegen können und die App nicht die Referenzpunkte verliert. Eine Frage, die uns oft gestellt wird, ist, ob wir GPS verwenden. Die Antwort lautet nein, weil die GPS-Technologie derzeit nur eine Genauigkeit von fünf Metern bietet. Wir arbeiten aber im Zentimeter-Bereich. Um die Gebäude, exakt so wie sie in der Vergangenheit zu einer bestimmten Epoche dagestanden haben, zu erstellen benötigen wir Baupläne oder zum Beispiel auch Bilder.

Miriam: Je nachdem, aus welchem Jahr das Gebäude stammt, kann man sich an alten Fotografien oder Kupferstichen orientieren. Die Gebäude sollen schließlich authentisch sein. Das heißt, wir mussten uns im Vorfeld anschauen, von welchen Gebäuden gibt es überhaupt genügend Informationen, um sie exakt darstellen zu können. Etwas, das wir uns dann auch überlegen mussten war, was im Rahmen einer Rätselrallye überhaupt möglich ist. Wie viele Stationen kann man zu einer gewissen Zeit schaffen? Wie viele unterschiedliche Gebäude können wir unterbringen? Wir haben uns zum Beispiel für eine Rekonstruktion der Mozartwohnung entschieden, weil wir dachten, es wäre schön, auch in einzelne Räume hineingehen zu können. Beim Heiltumstuhl war uns schnell klar, dass es auch interessant wäre, einige der Reliquien zu rekonstruieren, die man damals von diesem Gebäude aus den Menschen auf dem Stephansplatz gezeigt hat.

War es schwierig beispielsweise vom Stephansdom das Okay zu bekommen, diese Objekte zu scannen? Ich nehme an, ihr habt auch mit dem Wien Museum zusammengearbeitet, das für die Maria-Magdalena- beziehungsweise Virgilkapelle zuständig ist?

Franco: Im Wien Museum war es so, dass ein Kollege von der Uni dort gearbeitet hat. Er hat mir alle Infos gegeben, die ich benötigt habe. Leider war dieses großartige 3D-Modell von Wien nicht mehr dort, weil es im Zuge des Umbaus schon abtransportiert worden war. Wir haben allerdings in Wien das Glück, dass die alten Gebäude sehr gut dokumentiert sind. Das alles hat mir geholfen spezifische Objekte zu einem spezifischen Datum rekonstruieren zu können. Natürlich war viel Recherche notwendig. Es gibt im Internet eine Plattform von der Hauptuni Wien und der TU, wo man unterschiedliche Masterthesis finden kann. Dort habe ich sehr viel Material von Leuten gefunden, die sich speziell auf ein Objekt fokussiert haben.

Miriam: Solche Diplomarbeiten sind auch für mich sehr wichtig, um mir die Geschichten zu den Gebäuden anzuschauen. Das Wien Museum hat im Fall der Virgilkapelle sehr viel wissenschaftliche Arbeit geleistet. Im Stephansdom haben wir das Glück, dass wir einen Partner dort haben, der für uns auch Führungen macht. Er hat uns die Reliquien zur Verfügung gestellt. Wir haben diese Objekte fotografiert und dann 3D-Modelle davon erstellt. Bei dieser Methode wird nichts zerstört. Man muss die Objekte nicht einmal an einen anderen Ort bringen. Das ist nicht zuletzt auch eine gute Möglichkeit die Dinge zu schützen und sie trotzdem zu zeigen.

Inwieweit seht ihr in solchen virtuellen Stadterkundungen Potenzial für die Zukunft? Warum ist der Markt noch nicht so richtig in Fahrt gekommen? Ich denke AR ist etwas, das sich vielfältig nutzen lässt.

Franco: Augmented Reality ist sicher die Zukunft. In drei oder vier Jahren wird jeder Mensch ein paar Augmented-Reality-Brillen bei sich haben. Besonders im Bereich Geschichte und Kulturvermittlung mittels Augmented Reality dürfte der Markt wachsen. Darin sehe ich riesiges Potenzial. Warum es jetzt noch nicht so verbreitet ist, liegt vermutlich an den hohen Kosten. Aber auch, dass die Technologie dafür noch sehr beschränkt ist. Etwas, was auch wichtig ist, ist, dass es auch cool aussehen soll. Jeder mit einem I-Phone schaut cool aus, aber laufe ich mit so megagroßen Brillen herum, schaue ich nicht sehr cool aus. Das wird sicherlich ein Wendepunkt werden, wenn auch das Design stimmt. Die Augmented-Reality-Brillen, die es im Moment gibt, sehen einfach nicht gut aus. Die sind riesengroß und teuer.

Miriam: Das war auch einer der Gründe, warum wir uns entschieden haben, unsere Touren mit dem Handy zu machen. Unsere Handys haben alle eine Time of Flight Kamera, einen 3D-Sensor, der Tiefe messen kann.

Franco: Zudem funktionieren Handys besser beim Teambuilding als wenn jeder seine eigene Brille trägt. Mit dem Handy muss man mehr miteinander agieren, um das richtige Ergebnis zu erzielen.

Wer ist eure Zielgruppe? Schulgruppen, WienerInnen oder auch Touristen? Kommen zum Beispiel Leute zur AR-Tour, die zur „normalen“ Rätselrallye nicht kommen würden?

Miriam: Unsere Augmented-Tour ist derzeit noch auf Erwachsene reduziert. Schulgruppen haben wir zwar getestet, aber die Tour ist zu teuer, um sie an Schulklassen preisgünstig hergeben zu können. Auch das Spiel ist vom Schwierigkeitslevel her an Erwachsene angepasst. Das Publikum ist durch die Bank gemischt, hauptsächlich Gruppen – das heißt Teambuildingevents von Firmen, die das machen wollen, aber auch private Gruppen wie Geburtstagsfeiern zum Beispiel. Wir haben sogar Junggesellenabende. Jeden Freitag bieten wir zudem die Möglichkeit Einzeltickets zu kaufen. Im Tourismus spielt die Tour noch keine große Rolle. Auch weil wir im Moment nur 24 Personen gleichzeitig bespielen können. Wir haben in der Innenstadt derzeit sechs Stationen und möchten nicht, dass zu viele Personen an einer Station sind, damit das optimale Spielerlebnis erhalten bleibt.

Wie ist generell das Feedback auf eure Touren? Ich denke auch an die Rätselrallyes ohne AR zum erotischen oder schaurigen Wien. Sind das Sachen, die sich gut verkaufen?

Miriam: Ein Feedback, das wir in Bezug auf die AR-Tour sehr oft von Leuten, die sich gut mit der Technologie auskennen – und die Tour eher aus Research-Gründen machen – bekommen, ist, dass auch sie irgendwann voll eintauchen in das Spiel. Diesbezüglich geht es ihnen so wie mir, als ich die Sachen zum ersten Mal gesehen habe.
Was die anderen Touren betrifft, so habe ich in erster Linie jene Themen ausgesucht, wo meine Leidenschaft liegt, wo ich mich auskenne. Während meines Studiums habe ich mich auf die Bestimmung von Sterbealter, Geschlecht und Pathologien konzentriert. Das heißt, ich habe mit menschlichen Skeletten gearbeitet. Obwohl ich mittlerweile mit Lebenden arbeite, ist das Morbide trotzdem so ein bisschen mein Fachgebiet geblieben. Ich glaube, dass sich viele Leute für solche Themen begeistern, weil sie natürlich ein bisschen Thrilling sind. Worum es mir aber auch ging, war Wien abseits der Highlights bekanntzumachen. Es gibt so viele tolle Geschichten und Ecken und Hinweise, die man in der Stadt finden kann, die den meisten völlig unbekannt sind. Das heißt, die Leute können bei unseren Touren Dinge entdecken, an denen sie vielleicht jeden Tag vorbei gehen, aber trotzdem noch nie darauf geachtet haben. Leider ist es so, dass wir heute oft nur mehr ein Schild haben, das uns an jenes erinnern soll, was früher dort gestanden hat. Oft – wie zum Beispiel beim Heiltumstuhl – gibt es nicht einmal ein Schild oder irgendetwas anderes, das darauf hinweist. AR ist eine wunderbare Sache, diese Dinge sichtbar zu machen, so dass sich die Leute das besser vorstellen können. Man könnte natürlich auch zeigen – das wäre vielleicht ein interessanter nächster Schritt – wie sich ein Gebäude über die Zeit verändert hat. Wie ist die Hofburg zum Beispiel so geworden wie sie heute ausschaut?

Worin liegen die Vorteile solch einer spielerischen Wissensvermittlung, wie ihr es mit der AR- und den anderen Rätselrallyes betreibt?

Miriam: Im Großen und Ganzen ist es so, wenn man etwas selber macht, das heißt in etwas involviert ist, kann man die Dinge besser speichern. Es gibt diesen Spruch von Konfuzius, den ich sehr liebe: „Sage es mir, und ich werde es vergessen. Zeige es mir, und ich werde es vielleicht behalten. Lass es mich tun, und ich werde es können.“ AR ist diesbezüglich sehr spannend – auch weil man damit alle möglichen Lerntypen ansprechen kann. Wir haben visuelle Elemente, Sachen, wo man kommunizieren muss, aber auch Dinge, wo man sich etwas anhören muss.

Wenn ich an unser Schulsystem denke, herrscht immer noch zum Großteil Frontalunterricht. Gut ausgebildete Menschen sind eine Sache, selbstständig denken können ist eine andere – da liegt auch einiges an Revolutionskraft drinnen . . .

Miriam: Als ich angefangen habe ArchäoNOW zu gründen war meine Zielgruppe tatsächlich die Schulen. Das war mir deshalb ein großes Anliegen, weil ich denke, dass es vor allem Kreativität braucht, um Probleme zu lösen, die man auf dem derzeitigen Stand nicht lösen kann – wie Fragen zum Klima oder zu diversen anderen Dingen. Um Problemlösungen und Strategien zu fördern, ist es wichtig Neugierde zu wecken. Wenn jemand neugierig ist beschäftigt er sich gerne mit etwas und dann wird der Schüler, die Schülerin, nicht gezwungen etwas zu lernen, was er/sie lernen muss, sondern lernen will weil es sie/ihn interessiert.

Ich bin abschließend neugierig: was plant ihr als nächstes?

Franco: Wir arbeiten gerade gemeinsam an unserem zweiten Projekt, das eine Mischung aus Augmented Reality und Virtual Reality sein wird. Im nächsten halben Jahr wollen einen Prototyp entwickeln. Mit AR haben wir die Möglichkeit Gebäude, die es nicht mehr gibt, an bestimmten Orten zu zeigen, mit VR können wir zum Beispiel auch schwierig zugängliche Räume und andere Plätze visualisieren. Plätze, die nicht unbedingt vor Ort sind. Bei VR spielt die reelle Umgebung keine Rolle mehr. Man ist komplett in der virtuellen Umgebung eingetaucht.

Miriam: Das heißt, wir können einen Raum digitalisieren und uns zum Beispiel am Stephansplatz in diesen Raum, der ganz woanders sein kann, hineinbegeben.

Liebe Miriam, lieber Franco, danke für das Gespräch!
Danke auch!

https://www.archaeo-now.com/
www.vars.at

Titelbild: Die Maria-Magdalena-Kapelle auf dem Stephansplatz © Franco Lanfur

Geschrieben von Sandra Schäfer