Zuerst betrat Olivia das Rampenlicht – im Comicstrip von E.C. Segar. Ein paar Jahre später sollte auch Popeye der Seemann das Licht der Welt erblicken. Auf anfängliche Antipathie der beiden folgt Liebe, oder zumindest das, was die Beteiligten dafür halten. Auch in der Theaterversion der in Berlin lebenden Autorin Sivan Ben Yishai ist Olivia um einige Jahre älter als Popeye. Sie arbeitet als Romanautorin, ist Feministin und lebt ein von Männern unabhängiges Leben. Ihre Wohnung mit einem Mann zu teilen hat sie wenig Lust. Bis sie den warmherzigen, hilfsbereiten und zudem noch gutaussehenden Popeye trifft. Bald schon wird ein Vorsatz nach dem anderen über Bord geworfen. Olivia verdient zwar immer noch ihr eigenes Geld (ihr jüngster Roman wird gar mit einem Buchpreis ausgezeichnet, während der in einer Cafeteria jobbende Popeye nie über die erste Seite seines Drehbuchs hinausgekommen ist), doch emotional hat sie sich längst von ihm abhängig in seinen Schatten begeben.
Während Olivia alles daran setzt Popeye mit Verständnis zu begegnen und die Beziehung am Laufen zu halten, ist der vielgeliebte „Sailerboy“ offenbar nicht einmal dazu bereit ihre Werke zu lesen.

Auf dem Weg zur Tigerin

Umso mehr Olivia in die Beziehung investiert, umso mehr scheinen auch Selbstzweifel und Selbsthass zu wachsen. Da hilft es auch nichts, dass sexuell alles zum Besten zu stehen scheint – zumindest für Popeye oder exakter für dessen Schwanz. Um diesen hat Olivia eine mit der Zeit immer größer werdende „Obsessionshow herumperformt“. So weit, so (gar nicht) gut – denn über eine wesentliche Sache kann Olivia – trotz ihrer von Popeye bestaunten Orgasmen – bald nicht mehr hinwegsehen: Popeye hat sie einfach nie geleckt!
Eine Aussage, die einmal geäußert, in Folge minutenlang musikalisch vertont von der Bühne in den Zuschauerraum tönt. Diese zum Schreien komische (mit Zwischenapplaus honorierte) Klimax im Stück wird auch für Olivia der Wendepunkt. Die Geschichte der (Selbst-)Entwertung nimmt – passend zum im Programmheft abgedruckten Textauszug von Mithu M. Sanyal über die Entwertung der Vulva in der Geschichte – immer rasanter ihren Lauf. Solange bis Olivia schlussendlich zur zähnefletschenden, von Fleischeslust besessene Tigerin mutiert.
Ein von sexuellen Trieben behafteter Befreiungsschlag, der auf der Bühne im Kosmos jedoch nicht ganz zu überzeugen vermag. Dafür hat man sich zu sehr an den wunderbar unterhaltenden humorvollen Grundton der Inszenierung, der von den vier durchwegs fabelhaften Schauspielerinnen in ironischer – manchmal beinahe schon in absurd anmutender – Weise vorgetragen wird, gewöhnt und so kommt das Ende des Stückes weniger packend, als es vermutlich sein könnte, aus dem Fluss gerissen daher. Das ist insofern Schade, da es Sivan Ben Yishai versteht wortgewaltig Strukturen zu beleuchten. So einiges fließt hier im Laufe des Abends ineinander. Und so mag sich in so manchem Zuseher, mancher Zuseherin, mitunter die Erkenntnis formen, ein Stückchen an Olivias Lage mitverantwortlich sein zu können. Der Schatten Popeyes mag lang sein, doch jener von Olivias Mutter, Großmutter und Urgroßmutter sowie der Gesellschaft noch länger.
„Liebe / eine argumentative Übung“ birgt tatsächlich vieles zum Grübeln in sich. Anna Marboe inszeniert es für die Bühne des Kosmos in erster Linie als wahnsinnig witziges Stück, bei dem schon das Bühnenbild (Lisa Horvath) zu unterhalten vermag (etwa wenn die abnehmbaren Brustwarzen als Hut getragen werden können oder Olivias Großmutter durch den Lampenschirm Lebensweisheiten von sich gibt). Dass, das alles in Wahrheit äußerst tragisch ist, darüber wird jedoch auch hier nie der geringste Zweifel gelassen. Definitiv sehenswert!

LIEBE / EINE ARGUMENTATIVE ÜBUNG
von Sivan Ben Yishai
weitere Termine: Mi, 17. Do, 18., Fr, 19. und Sa, 20. November 2021, 20.00 Uhr
Mit: Anna Lena Bucher, Claudia Kainberger, Aline-Sarah Kunisch, Tamara Semzov
Kosmos Theater
Siebensterngasse 42
1070 Wien
www.kosmostheater.at

Geschrieben von Sandra Schäfer