In dieser Artikel-Reihe wird Musik ins Bewusstsein gebracht, die für eine pluralistische Gesellschaft steht. Musik als Statement. Musik mit Haltung.

Die Auswahl bezieht sich nicht unbedingt auf zeitnahe Veröffentlichungen, sondern auf das Privatarchiv des Autors, was auch bedeuten kann, dass einige Alben vergriffen sind, aber z.B. auf Plattformen wie discogs gebraucht erhältlich sind. Im ersten Teil gehört die volle Aufmerksamkeit einem Duo, deren vier Alben einen wichtigen Teil österreichischer Musikgeschichte darstellen. Gemeint sind Edek Bartz und Albert Misak alias Geduldig und Thimann.

Das rigide Nachkriegsösterreich

Jiddische Musik im rigiden Nachkriegsösterreich war bis Mitte der 1970er Jahre inexistent. NS-Zeit und Krieg gleichzusetzen gehörte zu den Strategien der österreichischen Verdrängung. Knapp 200.000 Juden, etwa 10 Prozent der Wiener Bevölkerung, waren vertrieben, geflohen oder ermordet, darunter auch ein bedeutender Teil der österreichischen Intelligentsia. Nach der Wiederherstellung von Österreich (Zweite Republik) wurde seriöse Entnazifizierung verabsäumt, vielmehr beharrte man in der Opferrolle. Die jiddische Sprache war praktisch verschwunden, so wie die Novaks aus Prag. Dem Herrn Karl hingegen ging es gut.

Die Sprache des täglichen Lebens

Juden sprechen im Grunde drei Sprachen: Hebräisch, die heilige Sprache im Gespräch oder Gebet mit Gott und in der religiösen Literatur; die jeweilige Landessprache im Umgang mit der nichtjüdischen Umwelt; Jiddisch, die Mameloschen (Muttersprache), als Sprache des täglichen Lebens im Umgang miteinander. Der Völkermord des 2. Weltkriegs senkte die Zahl von 10 Millionen aktiv jiddisch sprechenden Menschen „auf 1 Million und noch etwa 3 Millionen, die Jiddisch zwar verstehen, es aber nur gelegentlich sprechen.“ (Quelle: Ruben Frankenstein: Jiddisch – die Sprache der osteuropäischen Juden; 1979). In diesem Kurz-Essay stellte der Autor auch die Frage, „ob das Jiddische stirbt oder ob es, wie das Hebräische, zu neuem Leben erweckt werden“ kann.

Alz gejt awek mit dem rojch

Es dauerte (von 1945 an) ganze 30 Jahre, bis ein Album in jiddischer Sprache in Österreich produziert und veröffentlicht wurde. „Kum aher du Filosof“ (Mandragora; 1975) heißt dieses ungemein wichtige Album von einem Duo, das ihre Künstlernamen aus den Mädchennamen ihrer Mütter wählten. Die Mütter warnten ihre Söhne vor diesem Schritt und fürchteten, sie würden verprügelt werden. Edek Bartz und Albert Misak im Ö1-Interview: „Sie hatten immer noch Angst!“ Heraus kam ein berührendes Statement einer verloren geglaubten Kultur gemäß einer Talmudweisheit, die da lautet „Alz gejt awek mit dem rojch“ – alles, was die Philosophen und Wissenschaftler gedacht, geschaffen und erfunden haben, verschwindet wie der Rauch. Dieser Gedanke wird im Titellied aufgegriffen und unter der behutsamen musikalischen Leitung und dem Arrangement von Teddy Windholz fulminant umgesetzt. Eine bemerkenswerte Unschuld liegt in diesen 12 Stücken des Debüt-Albums von Geduldig und Thimann, darunter sind acht jiddische Lieder und vier Nigun. Letzteres ist ein hebräischer Ausdruck für religiöse Lieder und Melodien, wobei die Melodien oft nonverbal bzw. mit Silben wie ai-ai-ai gesungen werden. Je nach (improvisierter) musikalischer Ausrichtung klingt ein Nigun entweder wie ein Klagegebet oder es besitzt ganz einfach einen fröhlichen Charakter. Neben dem Titellied hervorzuheben ist „Sha stil“, ein liebevoller Spottgesang. Wenn der Rebbe tanzt, singt und betet, macht er es so beschwörend und wild, dass sogar der Satan wie tot umfällt.

Erstmals konfrontiert mit jiddischer Musik wurde ich mit dem zweiten Album von Geduldig und Thimann, „Mojschele majn Frajnd“ (EMI, 1980), produziert von André Heller und erneut unter der musikalischen Leitung von Teddy Windholz. Diese Lieder, und noch mehr die darauf erzählten Geschichten und die zugrundeliegende Sprache, lösten ein ganz starkes Wohlgefühl aus. Waren Post Punk, New Wave, 2 Tone ganz stark in der Zeit verhaftet und diente diese Musik auch einer Art politischen Sensibilisierung bzw. Sozialisierung, so war „Mojschele majn Frajnd“ und das prompt nachgekaufte Debütalbum zunächst einmal ein reiner, wenn auch unbestimmter, Sehnsuchtsort. Hier konnte man in etwas abdriften, das völlig unbekannt war. Keine wütenden politischen Parolen und keine Uniformierung, sondern die Idee einer friedlichen Welt basierend auf Sehnsucht nach Versöhnung, Wehmut und Fröhlichkeit bei gleichzeitiger Wertschätzung Kindern und Jugendlichen gegenüber. Für ein Wiener Vorstadtkind ohne jüdische Wurzeln war solch ein Zugang bis dahin vollkommen unbekannt, da war man eher mit einem Hausmeister, wie ihn Sigi Maron besang, konfrontiert („I bin da Hausmasta, und es Saugfrasta, schleichts eich aus da Wiesn!“). Und was sangen Geduldig und Thimann (später auf ihrem dritten Album)? „Jedes Kind is Wert Millionen.“ Die Veröffentlichung des zweiten Albums fiel in etwa auch gleichzeitig in die persönliche Entdeckung der großartigen Erzählungen von Stefan Zweig, Joseph Roth, Anton Kuh, Isaac B. Singer, und, ach, so viele mehr. Die 13 Lieder auf „Mojschele majn Frajnd“ bieten Trost und stärken den Glauben an das Gute. Das Motto des Albums ist die Fröhlichkeit, herausragend z.B. die Stimmungslieder „Frejlach“, „Dire-Gelt“ oder „Az der Rebbe singt“. Aber auch die stille Wehmut ist Thema, sei es im berührenden „Papier is doch Wajs“, sei es in „Roschinkes mit Mandlen“. Erzählungen wie in „Ojfn Weg stejt a Bojm“ sind schlichtweg herzzerreißende Weisen, gefühlvoll vorgetragen, musikalisch fein ziseliert. Der Höhepunkt bildet schließlich das letzte Lied des Albums, das sechsminütige „A Chasene mit a schejne Kalle“. Die Feierlichkeiten sind voll im Gange, wir wünschen Mazeltov, „es freut sich der Himmel und es jauchze die Erde, das Meer stimmt ein und was es erfüllt.“.

Scholem sol sajn, Scholem ojf der ganzen Welt

1978 erhielt Isaac Bashevis Singer den Nobelpreis für Literatur, fünf Jahre später erschien sein Lebensbericht in Romanform, „Verloren in Amerika: vom Schtetl in die Neue Welt“ (1983; dtv) in deutscher Sprache. Das Buch endet damit, dass der Held an einem Fenster eines traurigen möblierten Zimmers steht, in der Hand das Telegramm der Mutter seines Kindes, die auf dem Balkan festsitzt und dringend eine telegrafische Geldanweisung von ihm erwartet: „Ich lehnte mich soweit ich konnte aus dem Fenster hinaus, sog tief die Dämpfe der Stadt in mich ein und verkündete mir und den Mächten der Nacht: Ich bin verloren in Amerika, verloren auf immer.“ Drei Jahre nach Veröffentlichung dieses literarischen Ereignisses erschien das dritte Album von Geduldig und Thimann. Titel: „A Schtetl Is Amerike“ (WEA, 1986). Mit diesen 12 Aufnahmen ist dem Duo ein weiterer Meilenstein in der österreichischen Musikgeschichte gelungen. Im Gegensatz zu den beiden Vorgängeralben ist hier das Gesangsduo mit zwei verschiedenen Besetzungen (einer österreichischen und einer amerikanischen) zu hören. 12 Lieder schafften es aufs Album, davon wurden sechs Lieder im niederösterreichischen Furth/Göttweig aufgenommen, der Rest entstand im Classic Sound Studio, New York City. Die Liebe zu den Menschen und deren Lebensumstände zieht sich wie ein roter Faden durchs Album. „Di grine Kusine“ von Abe Schwartz über ein russisch-jüdisches Einwanderermädchen in Amerika ist ein Klezmer-Klassiker aus dem Jahr 1921 und ist hier mit The Andy Statman Klesmer Orchestra in grandioser Manier neu interpretiert worden. Zu hören sind auch drei Liedtexte von Mordechaj Gebirtig, dem „letzten jiddischen Barden“, der am 4. Juni 1942 im Krakauer Ghetto auf offener Straße von einem deutschen Besatzungssoldaten erschossen wurde. Seine Texte erzählen nicht von der romantisierenden Schtetl-Welt, sondern vom Leben der kleinen Leute in Kazimierz von der Zeit vor dem Krieg bis hin zum Holocaust. Welch großartige Texte, die uns Geduldig und Thimann wieder ins Gedächtnis brachten, z.B. „Awreml der Marwicher“, „Wer der erschter wet lachn“ und „‚Ch will nischt asa chosn“. Zum letztgenannten Lied gibt es übrigens eine wichtige Anmerkung im Booklet, die da lautet: „Wenn Schwiegermutter und Schwiegertochter den gleichen Vornamen haben, so sagt man, soll keine Hochzeit stattfinden.“ Den Schlusspunkt des Albums setzt das mit Hoffnung und Zuversicht beseelte „Schabbes sol sajn!“, aufgenommen mit u.a. Gertrude Kisser (acc.), Herwig Strobl (fiddle) und der wunderbaren Gesangspartnerin Lena Rothstein. Der Wunsch, „Friede soll sein auf der ganzen Welt“ blieb bis heute, wie wir alle leider nur zu gut wissen, ein Wunschtraum, ebenso ein baldiges Nachfolgealbum, denn nach Veröffentlichung von „A Schtetl is Amerike“ und einigen Live-Konzerten war zunächst mal Schluss mit Geduldig und Thimann. Edek Bartz in einem Interview mit dem Falter: „Die wollten nachher immer mit uns reden. Wir wollten uns aber nicht anhören, dass ihr Vater ein Nazi war, und konnten ihnen auch keine Absolution dafür erteilen. Wir wollten Freude verbreiten, aber es gab Zuhörerinnen, die praktisch das ganze Konzert durchgeweint haben. Es ist immer schlimmer geworden, und in meinem ansteigenden Zynismus habe ich auf der Bühne immer mehr mit Hardcore-Kabarett reagiert.“

Di Mame is gegangen

1992 war es aber dann doch noch mal so weit. Mit „A Haymish Groove“ (Extraplatte, 1992; Schallter, 2016) veröffentlichte Geduldig und Thimann ihr viertes Album, das gleichzeitig das Ende ihrer Zusammenarbeit markiert. Aufgenommen in Brooklyn, New York, und erneut mit The Andy Statman Klesmer Orchestra, sowie mit Jazz-Experimentalisten wie Don Byron (cl), Guy Klucevsek (acc), Bob Weiner (dr), Mark Feldman (v), Elliott Sharp (sax), zeigt das Gesangsduo die jüdische Avantgarde der Gegenwart. Zu hören gibt es eine unberechenbare Vielfalt mit aus der Zeit gefallenen Arrangements von Liedern aus einer längst versunkenen Welt. Kontrapunktisch dazu Textstellen wie „Ich habe Mandeln gegessen und Wein getrunken / ich habe ein Mädchen geliebt und konnte ohne sie nicht sein“ im Traditional „Di Mame is gegangen“. Ein weiteres Traditional, „Zhankoye“, ist hingegen ein politisches Lied über die jüdische Gemeinschaft in der Ukraine während des Stalin-Regimes mit der zentralen Botschaft (so wie es Pete Seeger und Theodore Bikel gesungen haben) „Work together hand in hand / Help to build a better land„. Die Erstveröffentlichung auf CD war in kurzer Zeit vergriffen, das Album für lange Zeit eine echte Rarität, bis 2016 Walter Gröbchen das Album auf dem reanimierten Schallter Label in Kooperation mit der Wienbibliothek, der Kulturabteilung der Stadt Wien (MA7) und dem Zukunftsfonds Österreich wiederveröffentlichte, erstmals auf Vinyl, limitiert auf 750 Stück. Im Zuge dessen haben Geduldig und Thimann der Wienbibliothek ihren künstlerischen Vorlass zur Verfügung gestellt. Wer auf der Suche nach zeitloser Musik ist, die Freude bringt, „und nichts als Freude, wenn auch die Arrangements wackeln„, um noch einmal Edek Bartz zu zitieren, der sollte sich unbedingt auf die Suche nach diesen vier Alben begeben, denn nicht zuletzt tragen diese Lieder zum Verständnis für eine bessere Welt bei.

Text: Manfred Horak
© Fotos: Manfred Horak, Archiv Wienbibliothek

Dieser Artikel wurde zum ersten Mal am 11. Februar 2018 in der Kulturwoche veröffentlicht.

Geschrieben von Manfred Horak