Es beginnt mit einer Couch, die im gezoomten Bildausschnitt wie eine Matratze wirkt. Für 100 Männer zwischen 16 und 99 hieß es im Zuge der Dreharbeiten zu Ruth Beckermanns aktuellem Film „Mutzenbacher“ darauf Platz zu nehmen und in die Welt des erstmals 1906 anonym im Privatdruck mit 1000 nummerierten Exemplaren erschienenen Romans einzutauchen. Wenige Wiener*innen, die den Namen jener berühmten (fiktiven) Dirne, die im Wien des Fin de Siècle ihre Beine spreizte, nicht zumindest einmal gehört haben. Gelesen haben den Roman, der lange Zeit vermutlich fälschlicher Weise Felix Salten (dem Autor von Bambi) zugeschriebenen wurde, möglicherweise mehr als man vielleicht denken mag (auch die Kulturfüchsin hat immerhin ein Exemplar von ihren Großeltern vermacht im Bücherregal stehen).

Bis 1969 zirkulierte „Josefine Mutzenbacher oder die Geschichte einer Wienerischen Dirne von ihr selbst erzählt“ in Raubdrucken unter der Hand – stand das Buch in Österreich (in Deutschland bis 2017) auf dem Index jugendgefährdender Schriften. Seinem Image als Literatur von Weltrang hat das Verbot, wie bei so vielen anderen literarischen Werken, freilich nicht geschadet. Im Gegenteil: bis heute hat der Roman mehrere Auflagen, eine kritische Ausgabe sowie Fortschreibungen erfahren.

Im Film ist davon (fast) nichts zu sehen. Es kommen keine Expertinnen zu Wort. Keine irgendwie geartete historische Fotografie kreuzt die Kamera, verwendet wurden weder historische Aufnahmen, noch erfährt man – abgesehen von einer in kurzen Sätzen eingeblendeten Einleitung und dem was die Männer vor der Kamera erzählen – etwas über die Zeit, in der er spielt. Mit auf A4-Zetteln gedruckten ausgewählten Auszügen wurden die Männer auf der eingangs gezeigten rosa-goldenen Couch positioniert. Manch einer positioniert sich im Anschluss an das Gelesene gar selbst – geht auf Distanz oder teilt seine Erfahrungen. Mitunter muss man da als Zuschauer*in ob des Gehörten auch schon mal schlucken. Regelmäßig fordert das Betrachten ein in sich gehen. Permanent ist man dabei das Gesagte mit seinen eigenen Ansichten und Erfahrungen abzugleichen. Man hinterfragt, wird skeptisch, ekelt sich oder wird neugierig. Wer sind diese Männer, die einen Aufruf zum Casting in der Zeitung gefolgt sind? Ein Großvater hat Angst um seinen Ruf, falls die Enkelkinder ihn bestimmte Auszüge lesen hören, ein Schüler spricht offen über Selbstbefriedigung. Gelegentlich wird auch diskutiert. Für manche Szenen bat das Filmteam zwei bis vier Männer gleichzeitig auf der Couch Platz zu nehmen. Da prallen auch Ansichten aneinander. Szenen werden nachgespielt. Zum Sozialporno wird jedoch nichts heruntergebrochen. Bereits nach wenigen Minuten wird klar, dass der Roman lediglich eine Folie ist, auf der sich ein Bild unseres aktuellen gesellschaftlichen Zustands ablesen lässt.

Sex ist heute in allen Medien, zugleich sei er laut Beckermann aber kein Thema. „Wer spricht also über Sex? Der Pfarrer, der Papst, der Richter, der Mediziner und die Medien“, hat die Regisseurin sich im Vorfeld gefragt. Mit ihrem Film habe sie „unter anderem versucht, diese Hegemonie für einen Moment aufzubrechen“. Zu hören sind die Anweisungen Beckermanns aus dem Off. Eine beabsichtigte Umkehrung, wenn man in etwa an das Bild der berüchtigten Besetzungscouch denkt. Statt immer nur sich selbst oder andere Frauen, sei es für sie reizvoll gewesen Männer zu portraitieren. Für Beckermann ein wesentlicher Schritt zur Gleichberechtigung. Der Film wurde unter anderem bei der Berlinale in der Sektion Encounters 2022 als bester Film ausgezeichnet.

Mutzenbacher. Ein Film von Ruth Beckermann. Österreich 2022. 100 Minuten.
Kinostart: 4. November

Titelbild: Filmstill „Mutzenbacher“ © Ruth Beckermann Filmproduktion

Geschrieben von Sandra Schäfer