Wann und wo genau die Schrift ihren Anfang nahm, lässt sich heute nicht mit Bestimmtheit sagen. Fakt ist jedoch: ohne Buchstaben geht seit Jahrhunderten nichts mehr. Das gilt auch für das Stadtbild. Wer durch Wien spaziert, spaziert immer auch durch ein Museum der Schriftzüge. Doch wie die Bauten, an denen sie angebracht sind, sind auch Schriftzüge dem Lauf der Zeit unterworfen. Dass man diesem Verfall entgegenwirken kann, beweisen seit 2012 Birgit Ecker und Roland Hörmann mit ihrem Verein “Stadtschrift”. Gemeinsam sammeln sie alten Fassadenschriften, sorgen für deren Restaurierung und überlegen sich regelmäßig neue Möglichkeiten der Präsentation.

Die Kulturfüchsin hat die Schriftensammler getroffen und sich zur Abwechslung nicht nur mithilfe von, sondern auch über Wörter unterhalten. Ein Gespräch über „Wiener Typen“, Neonröhren und warum es nicht egal ist, was man sich an die Wand hängt.

Manche Leute sammeln Bierdeckel, Sie Fassadenschriften: Wie kam es dazu: So ein drei Meter langer und ein Meter hoher Schriftzug ist nichts, was man mal schnell irgendwo mitnimmt …
Roland Hörmann: Ich habe Grafik studiert und mich auf Schriftgestaltung spezialisiert. Als ich nach Wien gekommen bin, waren Fassadenbeschriftungen für mich eine große Inspirationsquelle. Irgendwann bin ich durch Zufall zu meiner ersten Fassadenschrift gekommen. Als ich Birgit kennengelernt habe, haben wir beschlossen einen Verein zu gründen, weil wir gesehen haben, dass immer mehr Schriften aus dem Stadtbild verschwinden. Am Anfang haben wir die Schriften in diversen Kellern gelagert. Mittlerweile haben wir ein Lager unentgeltlich zur Verfügung gestellt bekommen.

Wie kommen Sie zu all den Schriften?
Birgit Ecker: In den Anfangszeiten des Vereins bestand unsere Hauptbeschäftigung darin herauszufinden, wie man es schafft zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Wenn eine Baustelle entsteht oder der Besitzer eines Hauses wechselt, verschwinden die Schriften oft von einem Tag auf den anderen. Wenn wir es rechtzeitig erfahren, holen wir sie beziehungsweise montieren sie ab. Da gehört viel Glück dazu. Mittlerweile bekommen wir aber auch schon viele E-Mails von Menschen, die uns Hinweise geben und Fotos schicken. Das oberste Stadtschrift-Ziel ist es allerdings das Bewusstsein der Leute zu schärfen, so dass die Sachen im öffentlichen Raum hängen bleiben.

Ist Wien ein gutes Pflaster für Schriftenliebhaber bzw. -sammler? Gibt es etwas, das die „Wiener Schrift“ besonders auszeichnet?
Roland Hörmann: Im internationalen Vergleich ist in Wien noch extrem viel erhalten. Es ist in wenigen Städten der Fall, dass man alte Schriften in dieser Dichte sehen kann. Typografisch ist eine Eigenheit, dass es viele verbundene Schriften – so genannte Script Schriften – gibt: charmante Schreibschriften anstelle von blockigen Grotesklettern. Früher war alles voll mit Neonschriftzügen. Es gab vermehrt vertikale Fassadenbeschriftungen. Die sind fast alle verschwunden.

Haben Sie eine Lieblingsschrift bzw. einen Lieblingsschrifttyp? Gibt es Schrifttypen, die vom Aussterben bedroht sind?
Roland Hörmann: Worüber wir hier reden, sind eigentlich keine Schrifttypen. Das sind spezifische Entwürfe. Persönlich hängt mein Herz an den Schreibschriften, weil da am meisten Charakter drinnen liegt. Das Währinger Gürtel Kino, zum Beispiel. Das ist ein Neonschriftzug, den es nur einmal gibt.
Birgit Ecker: Aus dem Schriftzug wurde auch unser Stadtschrift-Logo abgeleitet. So etwas wie das „Elektro“ auf unserer Museumsmauer sieht man selten. Man merkt, dass das ein Einzelentwurf von einem Schildergestalter ist. Mit den „Lebensmittel“-Buchstaben auf der Mauer haben wir auch ein „Café“. Das ist eine der ältesten Schriften, die sich in der Sammlung befindet – sie ist von 1918. Die Buchstaben sieht man oft auf Gemeindebauten. Es muss sich dabei um eine Schrift von der Stange gehandelt haben, die man sich zusammenkaufen konnte, wie man sie brauchte.
Roland Hörmann: Beim Coiffeur wissen wir zum Beispiel, dass es eine Vorlage gab. Der Coiffeur hat den Schriftzug aus einer Mustermappe gekauft. Im Laufe der Jahre werden aber auch solche Schriften individualisiert, in dem der eine die Schrift gelb anmalt und ein anderer sie durch Neons ersetzt.
Birgit Ecker: Das ist etwas, was ich an unserem Projekt spannend finde, weil man oft die Geschichte nachvollziehen kann. Du triffst die Leute, lernst die Familiengeschichten kennen.

Spielt das Wort, das von der Schrift transportiert wird, für Sie auch eine besondere Rolle?
Roland Hörmann: Schön finde ich spezielle Wörter, wo das Wort an sich schon exotisch ist, wie etwa „Kolonialwaren“ – da gibt es auch noch ein Schild in Wien.
Birgit Ecker: Wir haben auch einen „Autoradio“-Schriftzug. Das gibt es heutzutage nicht mehr. Das sind historische Dinge, Begriffe, die man nicht mehr braucht, die langsam verschwinden.

Was sind die ältesten Fassadenbeschriftungen, die wir heute im Stadtraum bewundern können?
Birgit Ecker: Die Schriften auf den Otto-Wagner-Stadtbahnstationen zum Beispiel.
Roland Hörmann: Diese verbauten Holzportale, die Glasplatten drüber haben. Da gibt es eines in der Barnabitengasse, von dem wissen wir, dass es 110 Jahre alt ist.

Existiert so etwas wie ein Trend in puncto Werbeschriften im öffentlichen Raum?
Roland Hörmann: Ich habe das Gefühl, dass gerade eine kleine Trendumkehr stattfindet. In den letzten zehn Jahren wurden Schriften sehr billig produziert – mit LED beispielsweise. Neonbeschriftung ist weitgehend verschwunden. Die Standardlösung für die meisten neu eröffneten Geschäfte ist die alten Schriften hinunterzugeben und eine Alutafel mit Beklebung hinaufzuhängen. Aber auf der anderen Seite merkt man, dass einige Leute wieder mehr Geld in die Hand nehmen und sich eine schöne Fassadenbeschriftung leisten, einfach weil sie wissen, dass es nicht egal ist, was man sich an die Wand hängt. Man hat auch eine Verantwortung gegenüber dem Stadtbild, das man mitprägt.

Inwiefern hat diese Veränderung etwas mit Digitalisierung zu tun?
Roland Hörmann: Früher ist die Kompetenz in den Händen von Schriftenmalern gelegen. Das waren Meisterbetriebe beziehungsweise Firmen, die Schriften und Leuchtschriften hergestellt und typografisch geschulte Leute beschäftigt haben. Heute kann sich jeder Schriften billig kaufen oder hat welche auf seinem Computer installiert und bastelt sich, was er braucht, selber zusammen. Das ist ein bisschen so, als würde sich jeder seinen Tisch selbst bauen – der wird in den seltensten Fällen so aussehen wie der vom Tischler. Auch die Lebensdauer von Schriften, die heute angefertigt werden, ist nicht mehr wie früher auf mehrere Generationen bemessen. Metallbuchstaben halten viele Jahrzehnte. Eine beklebte Alutafel muss gar nicht lange halten. Nach drei Jahren sperrt ein Geschäft entweder zu oder macht ein Redesign.

Wann wurde es populär, Fassaden mit individuellen Schriftzügen auszustatten?
Roland Hörmann: Das, was wir heute als Schild verstehen, hat seinen Ursprung in den Schildern von Handelsgilden: das Brezel stand für den Bäcker, die Schere verwies auf den Schneider usw. Ende des 19. Jahrhunderts haben sich immer mehr Markennamen zu verbreiten begonnen. Die Geschäftsinhaber fingen an, ihren Familiennamen draußen groß zu platzieren, und die Ladenportale sind langsam zugewachsen mit kleinen Werbetafeln von Maggi, Ankerbrot, Dingen, die Läden im Geschäft geführt haben. Neontechnologie ist 1910 in Paris vorgestellt worden. Die Hochblüte der Neons war in den 60er, 70er Jahren.

Heute erfreuen sich Piktogramme, Emoticons usw. besonderer Beliebtheit. Überspitzt formuliert: Werden wir künftig nicht mehr zum „Bäcker“ sondern wie im Mittelalter in ein Geschäft mit einem Schild mit einem Brot darauf einkaufen gehen?
Roland Hörmann: Verglichen mit der Grafik von vor 50 Jahren hat das Logo mehr an Bedeutung gewonnen und in dieses fließt oft ein Piktogramm ein. Bei der Bäckerei Mann dreht sich ein Maxerl mit dem Brot unter dem Arm. Das hat sich erst entwickelt. Früher ist nur Bäckerei draufgestanden. Aber dass Piktogramme Firmennamen ersetzen, das glaube ich nicht.

Wie schaut Ihre Utopie einer Stadt aus?
Roland Hörmann: Nur weil ich mich mit historischen Schriften beschäftige, heißt das nicht, dass ich will, dass die Stadt ausschließlich mit Vintageschriften vollgepflastert ist. Man muss auch schauen, dass das nicht ins Nostalgische abdriftet. Aber das, was uns an diesen alten Schriften gefällt, ließe sich auch heute erzeugen. Meine Wunschvorstellung wäre, dass Schriftzüge mit besserer Qualität mit längerer Lebensdauer wieder mehr Verbreitung finden. Dass die Gestaltung wieder vermehrt Spezialisten überlassen wird. Aber es ist mir klar, dass das auch eine Frage des Geldes ist.

Inwiefern wären öffentliche Förderungen sinnvoll?
Roland Hörmann: Es gibt eine Gebrauchsabgabe, die wir als Luftsteuer kennen. Die Geschäfte müssen für die Schriftzüge zahlen, sobald sie in den Straßenraum ragen. Wenn die Stadt wirklich will, dass Schriftzüge wieder wertiger ausschauen, müsste man diese Regelung umdrehen und sagen, man fördert gut gefertigte Schriftzüge und schaut, dass diese flachen Tafeln auf Dauer in der Gebrauchsabgabe teurer sind.
Birgit Ecker: Das ist generell ein schwieriges Thema. Denn wer beurteilt, was schön ist und ins Stadtbild passt. Es ist ein bisschen anmaßend zu sagen: das ist gut, so wollen wir das und das ist schlecht, das wollen wir nicht.
Roland Hörmann: Auf der anderen Seite gibt es Kommissionen für alles, warum nicht auch dafür?

Was wäre eine Dystopie für Sie?
Birgit Ecker: Dass jede Stadt gleich ausschaut.
Roland Hörmann: Wir waren vor kurzem in Asien, u. a. in Manila, dort gibt es nichts an Fassadenbeschriftung, was reizvoll oder schön ist. Das ist alles extrem kurzlebig.
Birgit Ecker: Diese Gefahr sehe ich für Wien allerdings nicht. Es gibt hier ein großes Bewusstsein für die Geschichte, für die Gebäude…

Wer sich einen Überblick über die Sammeltätigkeit des Vereins in den letzten Jahren 
verschaffen will, der pilgert am Besten zur Feuermauer im zweiten Bezirk. 
In der Kleine Sperlgasse 2c befindet sich Wiens erstes und bis dato einziges von 
weiten sichtbares typografisches Museum. „Blumen“, „Gas“ und „Bücher“ sind hier 
in trauter Eintracht vereint und leuchten des Nachts sogar. Ein kleiner Schauraum 
befindet sich zudem in der Liniengasse 2a.
Nähere Infos über die Tätigkeiten des Vereins finden sich unter: www.stadtschrift.at

Geschrieben von Sandra Schäfer