Monster, Hexen und vom Patriarchat gestürzte Göttinnen. Geister, Cyborgs und Outlaws: In „the que_ring drama project. Ghost Times. A Queer Journey Through Theatre“ laden sie noch bis 24. Oktober das Publikum zu einer kritisch-ironischen Raum-Zeit-Reise durch die Theatergeschichte ein.

Für die Kulturfüchsin legte der Dramaturg, Performer und Queer-Aktivist Gin Müller im Foyer des brut einen kurzen Zwischenstopp ein. Ein Gespräch über Theater an der Schnittstelle zwischen Performance, Kunst und Vermittlung sowie die heilende Kraft des Tanzes und Netzwerken in Zeiten des Rechtspopulismus.

Von der Welt der Mythen über die Antike bis hin zu Goethe: In „Ghost Times“ reist ihr an ausgewählte Punkte einer über 2.000 Jahre alten Theatergeschichte. Wie kam es zu diesem Projekt und wo würdest du es einordnen?

Ich sehe das Projekt stark zwischen Vermittlung und „Self-empowerment“ angesiedelt. Teilweise handelt es sich um persönliche Auseinandersetzungen der Künstler und Künstlerinnen mit den verschiedenen Aspekten der Theatergeschichte. Ich selbst habe Theaterwissenschaft studiert. Abgesehen von einer kleinen Sparte, die oft als interkulturell betitelt wird, ist das Studium sehr abendländisch orientiert. Man beginnt bei der Antike und geht in acht Semestern die wichtigsten Perioden durch. Schon damals habe ich mich gefragt, wie so ein Queer Reading zu den diversen Stücken und Epochen aussehen kann. Nach mehreren Lehrveranstaltungen zum Queer Reading und zur Queer Theorie wollte ich das Thema auch auf der Bühne angehen. Das Projekt ist aus einer Einreichung heraus entstanden. Ursprünglich war es für vier Jahre angelegt, wo wir die verschiedenen Perioden chronologisch durcharbeiten wollten. Mit der Entscheidung, dass es ein zwei Jahresprojekt wird, war nur mehr eine kleine Auswahl möglich.

Das Ensemble auf der anderen Seite ist ungewöhnlich groß – aktuell über 20 Performer_innen mit Queer-Hintergrund aus 15 verschiedenen Ländern. Wie habt ihr zusammengefunden und wie war die Zusammenarbeit?

Mit Jan Machacek und Edwarda Gurrola arbeite ich schon relativ lange zusammen. Radostina Patulova, die dieses Mal als Dramaturgin dabei ist, kenne ich auch von früheren Projekten. Das Konzept welche Gruppen man auswählt und welchen Themen man sich widmet, wurde mit ihr gemeinsam erdacht. Der erste Teil, der die Antike behandelt, ist mit diesem Kernteam entstanden. Nur Dariush Onghaie ist als Erzählgeist neu dazugekommen. Im zweiten Teil arbeiten wir mit den Studentinnen der Akademie der Bildenden Künste zusammen. Das hat sich dadurch ergeben, weil ich dort aktuell eine Gastprofessur habe. Marissa Lôbo, die für den dritten Teil verantwortlich ist, wurde von uns eingeladen und sie und ihr Team haben sehr autonom gearbeitet. Der letzte Part hat sich aus meiner Tätigkeit bei „Queer Base“ (ein Verein, der Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Interpersonen, die nach Österreich geflüchtet sind, hilft und unterstützt, Anm. d. Red.) ergeben. Karin Cheng, die für die Choreografie des Witchcraft Vogue Dances verantwortlich war, hat mit den meisten schon bei „Queer Base“ einen Tanz-Workshop gemacht.

Das klingt nach einem verzweigten Netzwerk . . .

Ich habe von Anfang an aus meiner Theaterarbeit heraus sehr viele Verbindungen geknüpft, sei es was Aktivismus angeht, Performancearbeit, Wissensvermittlung, Theorie und so weiter. Das hat einerseits den Nachteil, dass man nicht so leicht zuordenbar ist. Andererseits sind gerade diese Bereiche dazwischen interessant.

Wie wichtig ist Netzwerken generell im Queer-Bereich – nicht zuletzt aufgrund der aktuellen politischen Lage?

Solidarische Netzwerke werden immer notwendiger. Viele Errungenschaften werden aktuell gerade wieder demontiert. Mit dem rechtspopulistischen Ruck sind auch die Gender Studies und damit die queer-feministische Theorie wieder stark in Gefahr geraten. In Ungarn beispielsweise wird gerade deren Abschaffung diskutiert. Es ist vermutlich nur eine Frage der Zeit bis diese Entwicklung auch zu uns überschwappt. Der Diskurs um Diversität, um verschiedene Identitäten hat die Linke in gewisser Weise ziemlich geschwächt. Trotz allem sehe ich in der queer-feministischen Politik eine Stärke neue Aufrufe und Formen der Solidarität zu finden.

Eindeutige Verweise auf queer-feministische Theorien lassen sich bei euch auf der Bühne beispielsweise mit Zitaten von Donna Haraway finden. „I would rather be a Cyborg than a Goddess“ heißt die erste Performance. Ebenfalls zitiert wird „We are all compost, make kin not babies“. Könntest du vielleicht für jene, die nicht so in feministischer Wissenschaftstheorie bewandert sind, kurz die Bedeutung dieser Haraway-Zitate für das Stück erörtern?

Das Zitat „I would rather be a Cyborg than a Goddess“ stammt aus Haraways Abschlussarbeit, welche ein Manifest für Cyborgs ist. Diese Arbeit wurzelt stark im Cyborg-Diskurs der 80er Jahre – ein technofeministischer Diskurs, bei dem es um die radikale Dekonstruktion der Geschlechtlichkeit verbunden mit einer Analyse des Zustands der Welt geht. Haraway hat den Unterschied zwischen Technowesen, Menschen und Tieren in Frage gestellt und sich für eine Gleichberechtigung ausgesprochen.

Was den Kompost-Diskurs anbelangt, das hat mit dem ganzen Trash, mit dem wir leben zu tun. Vieles auf der Erde ist zerstört. Man könnte auch sagen, kompostiert. Kompost hat aber auch das Vermögen, Neues, neue netzwerkartige Verbindungen, entstehen zu lassen. Der sprichwörtliche Misthaufen der Geschichte wird bei uns zum Kompost-Haufen. Anders als eine Zeitmaschine, die etwas sehr Vertikales hat, bietet der Kompost auch die Möglichkeit, die verschiedenen Verbindungen und Spuren auf einer horizontalen Ebene einzusammeln. Der Part „make kinship no family drama“, wie es bei uns in abgewandelter Form heißt, ist noch einmal eine Absetzung vom freudianischen Familienkonzept. Letztendlich geht es darum, neue Verbündete und solidarische Verbindungen zu schaffen und nicht weiter das patriarchale Familiensystem zu schützen.

Im Stück sagt ihr, mit der Erfindung der Demokratie wurde auch das Theater erfunden. In beidem dominiert das Männliche. Gibt es in diesem Kanon ein Stück, das dich trotz allem fasziniert? Bei euch explizit erwähnt wird beispielsweise Medea . . .

Die Tragödie im antiken Griechenland war eine ziemliche Propagandaangelegenheit vom Staat Athen, in der sich der Demos, das Volk, selbst zelebriert hat. Insofern haben diese ganzen Stücke nach einer gewissen staatstragenden Logik funktioniert. Natürlich wurden auch persönliche Dramen beschrieben, aber die waren alle in verschiedenen Machtstrukturen eingebettet. Insofern kann man auch der Katharsis vorwerfen, dass sie eine staatsreinigende Funktion hat, einen Platz in der Ordnung der demokratischen Gesellschaft – eine Gesellschaft, die eine militarisierte war, in der es auch Sklaverei gab. Auch wenn man positiv sagen kann, dass Homoerotik existierte, darf man nicht vergessen, das waren totalitäre Strukturen, in denen den Frauen ganz klar ihr Platz im Heim zugeordnet war. Das spiegelt sich natürlich in den Stücken wider.
Was es gab, waren gewisse dionysische Elemente, die ein aufbrecherisches Potenzial haben. Aber die Komödie war sicher subversiver als die Tragödie. Das Lachen packt der Staat meist weniger. Darin sehe ich Queer-Potenzial.
Was mich immer interessiert hat, ist die Orestie mit der großen Ausrufung von Athene und Apollon am Schluss, die wir auch thematisieren. Das ist quasi die Ausrufung des Patriarchats in der abendländischen Antike, bei der die Matriarchatsgötter stillgelegt werden, die sich hier zum Schluss manifestiert.
Medea spielt bei uns nur eine kleine Rolle, und zwar in dem Sinne, dass wir fragen wer hat die Geschichte umgeschrieben. Es gibt bekanntlich verschiedene Medea-Mythen. Adorno sagt Mythen sind der erste Schritt zur Ordnung. Das Theater mit seiner Präsenz in der Athener Demokratie, wenn die Dinge ausgesprochen werden, ist ein weiterer Schritt. Das kann man natürlich auch queer lesen. Judith Butler hat in ihrem Antigone-Buch beispielsweise einer so staatstragenden Lektüre eine subversive Antigone entgegengesetzt.

Judith Butler hat in den 90er Jahren die Diskussion um die Queer Theorie in Gang gebracht. Du bist ja eine Generation, in der die so genannte zweite Frauenbewegung schon fast historisch geworden ist. Wie war dein Einstieg in die Feminismus-Debatte?

Die zweite feministische Bewegung war am Anfang sicher eine sehr subjektivistische, auch eine konstruktivistische. Es wird ja gesagt, man wird nicht als Frau geboren, sondern zur Frau gemacht. Mit Butler und der Queer Theorie war ein anderer shift, der mehr auf die Dekonstruktion von Geschlechtlichkeit herausgelaufen ist, da. Das war für mich damals der leichtere Einstieg in den Feminismus, weil ich auf meine Rolle als Frau und jetzt als Transmann nicht festgelegt werden wollte. Da hat mich Butler mit dem Konzept der Vielschichtigkeit sehr beeinflusst.

von links nach rechts: Khusen Khaydarov, Nurkhon Saidasanov, Yaser Al Nazar, Rawan Saleh © Lisbeth Kovacic

von links nach rechts: Khusen Khaydarov, Nurkhon Saidasanov, Yaser Al Nazar, Rawan Saleh © Lisbeth Kovacic

Ebenfalls als Reaktion auf die zweite Frauenbewegung erfuhr der Decolonial Feminismus einen Aufwind. Im dritten Teil, wird das Thema teilweise von Marissa Lôbo in der Performance aufgegriffen. Der für mich schwierigste Teil des Abends. Könntest du das Konzept von Lôbo ein bisschen erläutern?

Bei Lôbo geht es im Wesentlichen um den Aufbau einer anderen Kosmologie. Ausgangspunkt ist „Das große Theater der Welt“ von Calderón wo verschiedene Entitäten als Symbole wie die Welt, das Leben oder der Reiche auftreten.
In der Performance wird versucht mit Hilfe von Metaphern der populären Kultur wie eine Telenovela, die in Südamerika sehr beliebt ist, andere Entitäten vorzuschlagen.
Es gibt die Entität des Monsters, der MC Professore und des White Savior. Mit letzterem bearbeiten sie ein bisschen auch dieses White-Savior-Syndrom – diesen Retter-Komplex, der aus einer Critical-Whiteness-Perspektive höchst problematisch ist. Dadurch, dass sie mit diesen Entitäten bewusst spielen, werden sie auch wieder dekonstruiert. Wichtig ist dabei der Begriff des Healing, der im Decolonial eine bedeutende Rolle spielt. Die Frage ist schließlich auch: was kommt nach der Dekonstruktion …

Im Stück erwähnt wird auch Zarathustra und seine dualistische Konzeption. Gerade in der heutigen Gesellschaft merkt man erneut einen weit verbreiteten Hang zum Schwarz-Weiß-Denken. Wieso sind die Menschen – abgesehen davon, dass sich mit „wir die Guten, ihr die Bösen“ gut Politik machen lässt – so anfällig für dualistische Denkweisen?

Die Menschen sind bequem und suchen oft einfache Lösungen. Rechtspopulisten bedienen schnell diese gut/böse Schiene. Zudem bieten die Medien und das Internet heute die Möglichkeit schnell Dampf abzulassen. Da mangelt es uns an Diskussionskultur, an einer angemessenen Streitkultur. Das Theater ist diesbezüglich ein spannender Ort der Auseinandersetzung. Durch die Lifepräsenz der Körper bietet sich die Möglichkeit, sich dem Thema anders intensiv zu nähern. Auf der anderen Seite ist es natürlich ein markierter Ort und die Leute haben komplett unterschiedliche Vorstellungen von dem, was Theater sein soll.

In eurem Fall wird das Theater auch zur Tanzbühne. Der Abend klingt mit einem so genannten Witchcraft Vogue Dance aus. Das erinnert ein bisschen an den Life Ball – feiern gegen Tod, tanzen gegen Ausgrenzung und Unterdrückung. Ist der Tanz eine Möglichkeit eine gemeinsame Sprache des Widerstandes zu finden?

Tanzen hat sicherlich das Vermögen gemeinschaftsbildend zu sein. Es gibt von Emma Goldman den Satz: „If I can’t dance to it, it’s not my revolution“. Voguing speziell gilt auch als Gay-Resistance-Tanz, weil er dieses ganze Posen verarscht und sehr humoristisch Genderklischees zerlegt. Die Witchcraft-Vogue-Hexen bedienen bei uns einerseits einen Moment des Widerstandes, andererseits hängt der Tanz auch mit dem Prozess des Healings zusammen, was wiederum mit dem anfänglich genannten Self-empowerment in Verbindung steht.

Zur Person
Gin Müller arbeitet als Dramaturg_in, Theaterwissenschafter_in, Performer_in, 
Queer-Theoretiker_in und Lektor_in am Institut für Theater-, Film und 
Medienwissenschaften der Universität Wien. 
Außerdem war Gin Müller Teil der queeren Performanceband SV Damenkraft 
(gemeinsam mit Sabine Marte, Christina Nemec und Katrina Daschner) 
und Mitbegründer_in der VolxtheaterKarawane. 
Seit 2007 Projekte im brut.

the que_ring drama project
Ghost Times
A Queer Journey Through Theatre
Noch bis 24. Oktober 2018
studio brut
Zieglergasse 25, 1070 Wien
Tickets: https://brut-wien.at/de

Titelbild: Marissa Lobo in Ghost Times © Gin Müller

Geschrieben von Sandra Schäfer