Schon einmal – im Februar 1918 – war es dem baltischen Land gelungen nach Jahrhunderten der Fremdherrschaft einen Staat zu gründen. Doch zwei Diktatoren mit Weltherrschaftsattitüden beendeten diesen Status mit dem 1939 geschlossenen Geheimpakt zwischen dem Großdeutschen Reich und der Sowjetunion. Die estnische Republik wurde zum Spielball im Zweiten Weltkrieg bis das Gebiet irgendwann unter den Augen der westlichen Mächte hinter dem Eisernen Vorhang verschwand. Für viele Zeitgenossinnen und Zeitgenossen scheint sie trotz zwölfjähriger EU-Mitgliedschaft bis heute – in geistiger wie auch in geographischer Hinsicht – nicht wieder aufgetaucht.

Und dass, obwohl Estland viel zu bieten hat: jede Menge Geschichte, kulturelle Vielfalt sowie – nicht zuletzt – ein im Sommer ideales Sightseeing-Wetter von 24 Grad. Dänen, Schweden und Russen, sie alle stritten jahrhundertelang um ein Gebiet, das von deutschen Ritterorden und Handelsgilden (im Zuge der gewaltsamen Christianisierung ab dem 12. Jahrhundert) in Beschlag genommen worden war. Die unterschiedlichen Einflüsse, die die verschiedenen Invasoren und Epochen im Land hinterließen, lassen sich komprimiert in Estlands Hauptstadt Tallin verfolgen. Die Stadt hält vom mittelalterlichen Stadtkern über eine alte Befestigungsburg samt Stadtmauer bis hin zum modernen Kunstmuseum (an dem sich manches Wiener Museum der Moderne ein Beispiel nehmen könnte) eine beachtliche Bandbreite an Sightseeing-Highlights bereit.

Im Tallinner Okkupationsmuseum

Bei allen zu unternehmenden Sightseeing-Touren sollte aber ein Museum auf keinen Fall vergessen werden. Das kleine Okkupationsmuseum am Rande der Altstadt. Hier kann die jüngere Geschichte – von der Okkupation durch die Rote Armee 1940 bis hin zum offiziellen Wiedererlangen der Unabhängigkeit am 20. August 1991 – ausführlich studiert werden. Obwohl die Auseinandersetzungen zwischen Russen und Deutschen auf dem Gebiet des Baltikums keineswegs erst im 20. Jahrhundert aufkeimten, erlebten sie mit dem Zweiten Weltkrieg einen traurigen Höhepunkt, der wie so oft auf dem Rücken der einfachen – in diesem Fall – estnischen Bevölkerung ausgetragen wurde.

Etwas, das viele bereits vorhergesehen hatten: Als die ersten russischen Panzer unter dem Vorwand Estland und andere Gebiete vor den Deutschen, die soeben Polen überfallen hatten, „zu beschützen“, einrollten blickte der junge estnische Staat seinem Ende entgegen. Bald begann die Sowjetmacht mit der Deportation Andersdenkender. Alleine am 21. Juni 1941 wurden über 9.000 Menschen aus ihren Häusern geholt und nach Sibirien verfrachtet. Unter den Eindrücken der Repression setzen viele Esten ihre Hoffnung zunächst auf die Deutsche Wehrmacht. Hitler brach das Abkommen mit der Sowjetunion und deutsche Truppen überschritten am 7. Juli die Grenze Estlands, wodurch die Stadt und das Land von einer Willkürherrschaft in die nächste gerieten. Die von den Esten innig erhoffte Wiederherstellung der Unabhängigkeit erfolgte nicht. Der deutsche Diktator verfolgte vielmehr das Ziel, Estland dem Deutschen Reich anzugliedern. Die erhofften „Befreier“ entpuppten sich ebenfalls als pure Aggressoren.

Kommunisten, Nationalisten, Juden, Roma, Homosexuelle und alle, die den neuen Machthabern nicht in ihr Weltbild, passten wurden aufgespürt, erschossen oder in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Nichts anderes taten ab 1944 erneut die Russen, als sie im Zuge des Vormarsches der Sowjetarmee baltisches Gebiet eroberten. Die Angst vor einer erneuten Okkupation war dermaßen groß, dass rund 70.000 Esten ins Ausland flohen. Andere blieben im Land und gingen zu den so genannten „Waldbrüdern“. Jahrelang machten die Waldbrüder als Widerstandskämpfer der Sowjetregierung das Leben schwer. Die Sowjetregierung meinte das Problem mit weiteren Massendeportationen lösen zu können, in denen man sich aller in Verdacht stehenden Unterstützern entledigte (alleine in der Nacht des 15. März 1944 wurden über 20.000 Menschen – 70 Prozent davon Frauen – nach Sibirien deportiert). Ende der 50er Jahre herrschte vorerst „Ruhe“ in der Estnischen SSR. Die ehemalige Estnische Republik war ein russischer Überwachungsstaat und blieb es trotz kurzzeitiger Tauwetterperiode, die sich auch in Estland bemerkbar machte, bis zum Schluss. Wollte man der Überwachung entgehen, musste einiges an Einfallsreichtum an den Tag gelegt werden. Einen besonderen liefert das Museum mit dem Kapitel Rockmusik. In den 70er Jahren hatte diese Musikgattung auch die Herzen und Köpfe vieler Esten erreicht. Sie zu hören oder gar zu spielen war jedoch illegal und so operierte man zumeist im Untergrund (Punks sollten vor allem in der weitläufigen Kanalisation unter Tallinn einen Hort der Subkultur errichten). Wer sich keine E-Gitarre auf dem Schwarzmarkt leisten oder diese ins Land schmuggeln konnte wurde erfinderisch und bastelte sich u.a. mittels Zubehör aus einer Telefonzelle einfach selber eine. Der passende Telefon-Apparat ist nebst einer Menge anderer technischer Geräte wie Überwachungsanlagen, Radiosender usw. zu bestaunen.

Trotz umfassender Repressionen ließen sich viele nicht unterkriegen und bei Singfesten ertönte auch weiterhin – nicht selten mit dementsprechenden Texten unterlegt – der Klang des estnischen Strebens nach Unabhängigkeit. Mit Gorbatschow und der Perestroika kam schließlich auch in Estland der Stein in Richtung Unabhängigkeit langsam ins Rollen. Obwohl der russische Staatschef die baltischen Staaten eigentlich nicht aus dem Verband der Sowjetstaaten ausscheiden lassen wollte. Doch in Litauen war die Lage mittlerweile eskaliert und der fehl geschlagene blutige russische Putschversuch von 1991 in Vilnius und der Putschversuch kommunistischer Hardliner in Moskau lieferten schließlich ungewollt den letzten Anstoß und so erhielt Estland am 20. August 1991 – 52 Jahre nach dem Hitler-Stalin-Pakt am 23. August 1939 – nach monatelangen Debatten nationalstaatliche Souveränität.

Vom Stadtmuseum nach Patarei

Über den mühsamen Weg dieser letzten Monate, der zur offiziellen Staatsgründung führte, liefert vor allem das Tallinner Stadtmuseum, das in einem alten Patrizierhaus untergebracht ist, Auskunft. Hier zu sehen sind vor allem Essensmarken – die auch lange nach dem Krieg noch im Umlauf waren – sowie Alltagsgegenstände wie Plakate aus jener Zeit, während im Okkupationsmuseum viele persönliche Erinnerungsstücke wie Fotografien, Briefe oder Interviews mit Zeitzeugen zu sehen sind.

Ein trauriges Zeichen der Unterdrückung liefert auch Estlands berüchtigstes Gefängnis Patarei. 1840 bis 1867 als Fort von den Schweden errichtet – jedoch aufgrund diverser Mängel nie wie geplant vollständig in Benutzung, diente es von 1920 bis 2002 als Gefängnis. Heute ist das Gebäude für Besucher frei zugänglich und jagt viele Jahre nach seiner Verwendung als Haftanstalt den Besuchern noch immer Schauer über den Rücken. Auf drei Stockwerken in zwei gegenüberliegenden Blocks wurden während der Sowjet-Zeit bis zu 5.000 Häftlinge in überfüllten Zellen gefangen gehalten. Für viele endete der Aufenthalt tödlich. – Bis 1991 fanden hier regelmäßig Hinrichtungen statt. Der Hinrichtungsraum ist ebenso wie Zellen, die ehemalige Bibliothek, die Krankenstation und der Raum, den die Nazis zum Hängen ihrer Opfer verwendeten, frei begehbar. Einige der Gänge und Zellen sind heute mit Kunst „verziert“. Ein kontrovers diskutiertes Projekt. Während es für die einen eine Schändung des Ortes darstellt, sehen andere darin einen wichtigen Beitrag, die Geschichte des Ortes lebendig zu halten. Da wo früher Häftlinge tagelang im Dunkeln hockten – die Zellen-Fenster wurden aufgrund der Olympischen Spiele in Moskau 1980 aus Angst vor Leuchtsignalen der Häftlinge aufs Meer hinaus mit Metallplatten verschlossen und bis zum Ende nicht mehr geöffnet – zieren heute Bilder der Hoffnung die Wände. Fotografien auf Birken und steinerne Koffer erinnern hingegen im Okkupationsmuseum an die zahlreichen Verschleppten, Vertriebenen und Ermordeten.

Okkupationsmuseum
Toompea 8
Tallinn
Öffnungszeiten Di bis So 11 bis 18 Uhr
www.okupatsioon.ee

Linnamuuseum
Vene 17
Öffnungszeiten: 10 bis 18 Uhr (dienstags geschlossen)

Patarei
Kalaranna Fort (Kalaranna 28)
www.patarei.org

Mehr zum e.art.h-Projekt in Patarei
http://www.loovkeskus.ee/earth/meist/

 

@Fotos: Sandra Schäfer

Geschrieben von Sandra Schäfer