Seit jeher sind die Menschen fasziniert vom Untergrund. Von dem, was sich im Verborgenen befindet. Auch Wien bietet seinen Bewohnern eine reiche Palette an kulturellen Beschäftigungsmöglichkeiten unter der Oberfläche. Und weil sich nicht nur Kellerrratten, sondern auch Kulturfüchsinnen unter Tage pudelwohl fühlen, geht es diese Woche im Rahmen der Stadterkundungstour in die Eingeweide der Stadt.

Virgilkapelle – ein Stück Mittelalter in der U-Bahn

Wo könnte man so eine Tour besser beginnen als im Mittelalter, und zwar in der Virgilkapelle, einem der besterhaltenen gotischen Innenräume Wiens. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts als Andachtskapelle im Auftrag einer reichen Wiener Kaufmannsfamilie errichtet wurde die in Vergessenheit geratene Kapelle erst 1973 im Rahmen des U-Bahn-Baus wiederentdeckt. Seit Dezember 2015 ist der mit Fugenmalereien und Radkreuzen bemalte Andachtsraum zudem um ein Museum zur Geschichte Wiens im Mittelalter reicher.

Jüdische Museum

Ins Wien des Mittelalters versetzt einen auch ein Besuch ins stellenweise unter dem Judenplatz gelegene Jüdische Museum Wien. Judenplatz und Museumsgebäude sind nicht nur von außen hübsch anzusehen, sondern auch voller innerer Werte. So befinden sich direkt unter dem Mahnmal die Überreste der Anfang des 15. Jahrhunderts zerstörten Synagoge sowie eine Ausstellung zum Alltagsleben der jüdischen Gemeinde im Mittelalter.

Auch Fälscher haben ein Museum

Ein ungewöhnliches Museum beherbergt auch das Kellergewölbe in der Löwengasse im dritten Bezirk. Die Betriebswirtin Diane Grobe und der Architekt Christian Rastner betreiben seit 2005 hier das Fälschermuseum Wien. Die Idee zum Museum kam dem kunstinteressierten Paar nach einem Treffen mit Edgar Mrugalla, seines Zeichens „König der Fälscher“. Mrugalla soll im Laufe seines Lebens Gemälde von einem geschätzten Marktwert von 20 Millionen Euro gefälscht haben. Unter seinen Kunden befand sich u.a. die DDR Regierung, die seine Fälschungen im Westen für teures Geld verkaufte. Im Gewölbe des Museums ist zudem eine Matisse-Fälschung des britischen Meisterfälschers Elmyr de Hory zu bewundern. Rund 200.000 Euro sollen dem Paar bereits für diese Fälschung geboten worden sein. Nur österreichische Meisterfälscher sucht man hier vergebens.

Mit der U-Bahn zur Kunst

Dafür wartet der Wiener Untergrund mit einer mittlerweile angewachsenen Zahl österreichischer Gegenwartskünstler auf. Peter Kogler, Anton Lehmden und Adolf Frohner haben eines gemeinsam: Ausstellungsort eines ihrer Werke ist die Wiener U-Bahn. Was in London, New York oder Stockholm seit Jahren ein Muss jeder Stadtbesichtigung ist, wird auch in Wien zunehmend interessant: eine Tour durch das unterirdische Verkehrssystem auf den Spuren zeitgenössischer Kunst. Denn auch hier schmücken mittlerweile mehrere Kunstwerke österreichischer und internationaler Künstler das Tunnelsystem. Und die “Besucherzahlen sind enorm: 100.000 Passanten eilen alleine täglich am Westbahnhof an Adolf Frohners „55 Schritte durch Europa“ – von der Geburt der Materie über die Steinzeit bis heute – vorbei. Etwas weniger wohnen der Entstehung der Welt mit Anton Lehmdens „Das Werden der Natur“ in der U3-Station Volkstheater bei. Das 360 m2 große Glasfries war das erste Kunstwerk, das 1991 im Auftrag der Wiener Linien ausgestellt wurde.

Bunker & Keller

Etwas weniger lang gibt es das Foltermuseum im Esterhazypark. Dass es sich bei dem kleinen Eingangshäuschen um den Abgang in eine der besterhalten Bunkeranlagen der Stadt und bei dem Museum um ein Statement gegen die menschliche Grausamkeit handelt, ist jedoch mit Sicherheit bis heute vielen Touristen sowie WienerInnen nicht bewusst. Im Vergleich zum Londoner Dungeon wirkt das unter zwei Meter dicken Betonwänden mit Stahlarmierung gelegene Wiener Museum eher bescheiden – kommt es doch beinahe ohne geisterbahnähnliche Spektakel aus. Das verdankt es vor allem der Zusammenarbeit mit Amnesty International – jener unabhängigen internationalen Bewegung, die sich seit 1961 der weltweiten Wahrung der Menschenrechte verschrieben hat. Nach dem Rundgang anschaulich gestalteter historischer Darstellungen der Folter liefern mehrere Fotos und Plakate sowie ein kurzer Film und eine von Amnesty  International gestaltete Sonderausstellung traurigen Bericht über die noch heute erschreckende Situation in vielen Ländern.

Die Zeit des Zweiten Weltkrieges und dessen Folgen stehen hingegen im Bunker im Arne Carlsson-Park zur Diskussion. Seit vergangenem Jahr befindet sich in der unterirdischen Bombenschutzanlage das Befreiungsmuseum. Während es heute über die Geschichte um 1945 informiert, diente es der Bevölkerung damals als Bombenschutzkeller. Doch nicht jeder Wiener fand hier Unterschlupf. Manch einer bevorzugte den eigenen Keller. Und davon hat Wien reichlich zu bieten. Bis zu fünf Stockwerke unter die Erde soll es in früheren Zeiten gegangen sein. Einer, der bestens über die Geschichte und Architektur des Wiener Kellersystems informiert ist, ist Peter Ryborz. Mit seiner Tour „Keller & Co“ geleitete er Interessierte in die verborgene Welt unter Wien. Und auch wenn bekanntlich jeder eine Leiche im Keller haben soll, die Tour mit Ryborz gestaltet sich skelettfrei.

Von Gruft zu Gruft

Anders sieht es bei einer Führung in das unterirdische Gewölbe des Stephansdoms aus. Hier befinden sich gleich mehrere Skelette. Verwahrt werden die Überreste u.a. elendig zugrunde gegangener Pestopfer in den Katakomben. Aber auch die konservierten Organe der Habsburger befinden sich unter dem Dom. Prunkvoll offenbart sich auch die Kapuzinergruft, in der die „herzlosen Überreste“ der Habsburger-Dynastie ruhen. Die entnommenen und konservierten Kaiser-Herzen befinden sich jedoch nicht weit entfernt, in der Herzgruft in der Augustinerkirche. Weitaus schauriger gestaltet sich der Abstieg in die Michaelergruft, die mit ihren 200 erhaltenen Särgen ein eindrucksvolles Zeugnis menschlichen Verfalls liefert. In einem Stück erhalten sind rund 25 Mumien. Sie wurden aufgrund des Klimas über die Jahre konserviert und sind mitsamt Hand- und Stöckelschuhen zu bestaunen.

Film & Theater

Schickes Schuhwerk zuhause lassen sollte man hingegen bei einer Tour in das Wiener Kanalsystem. Seit Jahren bei Touristen und Wienern gleichermaßen beliebt führt die Dritte Mann Tour Besucher in das unterirdische Abwassersystem, das einst als Kulisse für Carol Reeds Kultfilm diente.

Aber nicht nur für Filmfans lohnt ein Ausflug unter die Stadt. Gerade in Wien haben Kellertheater eine lange Tradition. So finden sich Liebhaber des Theaters in Wien des öfteren im Keller sitzend wieder. Auch manches Caféhaus wie u.a. das Café Prückel, das immer wieder freie Gruppen beherbergt, verfügt über eine kleine Bühne im Souterrain. Eine Wiener Besonderheit ist auch das Kosmostheater, das angeblich einzige Theater weltweit, das sich ausschließlich dem Schaffen von Frauen verschrieben hat.

Speis und Trank in der Sagenwelt

Kein Einzelfall sind hingegen die zahlreichen Restaurants, Bars und Clubs, die in den Wiener Kellern ihr Zuhause gefunden haben. Regelmäßig zieht es Touristen wie Wiener zur Nahrungsmittelaufnahme beispielsweise in den 675 Jahre alten Zwölf-Apostelkeller, in dem man Schnitzel & Co in einer original gotischen Brunnenstube schmausen kann. Ansprechend ist auch die Weinbar Villon, wo der Rebensaft zwei bis vier Stockwerke unter der Erde ausgeschenkt wird. Für Weinfreunde ebenfalls empfehlenswert ist eine Führung im Weinkeller des Palais Coburg. Champagnerfreude kommen hingegen im 2,5 Kilometer langem Kellergewölbe der Sektkellerei Schlumberger auf ihre Kosten. Aber Vorsicht: Der Weingeist zieht auch heute noch Unvorsichtige in den Abgrund. Oder wie im Falle des lieben Augustin in die Pestgrube, in der er von einer Sauftour heimkehrend gefallen sein soll. Passiert ist dem Lebemann nichts und für sein Glück wurde er mit einer Figur geehrt, die unter dem Eingang des Griechenbeisl sitzt.

Ebenfalls eine Geschichte, die jedes Wiener Kind kennt, ist die Sage vom Lindwurm, der in der Schönlaterngasse sein Unwesen getrieben haben soll. Und obwohl der Lindwurm heute zur Gruppe der ausgestorbenen Arten zählt, hat die Unterwelt trotz allem nichts an Faszination eingebüßt.


Links:

Virgilkapelle: www.wienmuseum.at/de/standorte/virgilkapelle.html
Jüdisches Museum Wien: www.jmw.at/
Fälschermuseum Wien: www.faelschermuseum.com
Foltermuseum für mittelalterliche Rechtsgeschichte. Die Geschichte der Folter
In Zusammenarbeit mit amnesty international: www.folter.at
Befreiungsmuseum im Erinnerungsbunker: www.befreiungsmuseumwien.at/
Kellertouren mit Peter Ryborz: www.unterwelt.at
Dritte Mann Tour: https://www.drittemanntour.at/
Gruft Michaelerkirche: www.michaelerkirche.at
Katakomben Stephansdom: http://www.stephanskirche.at/index.jsp?langid=1&menuekeyvalue=22
Kapuzinergruft: www.kaisergruft.at
Kosmostheater: www.kosmostheater.at
Kunst und Kultur im Café Prückel: http://www.prueckel.at/kunst-und-kultur
Schlumberger Kellerwelten: https://www.schlumberger.at/de/kellerwelten
Zwölf Apostelkeller: www.zwoelf-apostelkeller.at/
Griechenbeisl: www.griechenbeisl.at/

 @Virgilkapelle (Header): Wien Museum (Kollektiv Fischka/Kramar mit Sabine Wolf
Animation: 7reasons/Michael Klein); U-Bahn-Kunst: KÖR/Iris Ranzinger

Geschrieben von Sandra Schäfer