Keusch, fromm und wunderschön ist das Gretchen – wie sollte es auch anders sein, das aus früheren Zeiten übernommene Frauenbild des 19. Jahrhunderts. Als Projektionsfläche für die Wünsche der Männer in ihrer Umgebung ist der Sturz ins Unglück vorprogrammiert. Nicht nur so mancher Mann in ihrer Umgebung hat es auf die Schöne abgesehen – auch der Leibhaftige höchstpersönlich treibt sein Spiel mit ihr. Als sichere „Beute“ führt er sie dem des Leben überdrüssigen Faust in einer Vision vor Augen – ohne weiter zu zögern unterschreibt dieser den Pakt und überlässt dem Teufel willig für die erhaltene Jugend seine Seele. Was folgt ist die Geschichte einer der bekanntesten gefallenen Frauenfiguren der Weltliteratur und zugleich der Aufstieg einer Oper. Allein rund 300-mal hauchte die ins Unglück Getriebene in der von Goethe inspirierten Faust-Fassung von Charles Gounod am Pariser Théâtre-Lyrique ihr Leben aus. An die 3000 Aufführungen folgten nach einer Überarbeitung (ohne die für die Opéra-comique typische Form der gesprochenen Dialoge) an der Pariser Opéra. In Wien und im deutschsprachigen Raum erlangte die Oper aufgrund der starken Fokussierung des Stoffes auf die Gretchen-Tragödie unter dem Titel „Margarethe“ Bekanntheit. Als „Faust“ steht sie diese Saison in der Kammeroper des Theater an der Wien auf dem Spielplan – eine ungewöhnliche Ménage à six, denn Faust, Mephisto und Gretchen werden von den Sängern als Puppen über die Bühne bewegt. Zu bewegen versteht das Stück deshalb jedoch nicht minder. Wo manch Kritiker ätzte, jubelte das Publikum. Der Stoff erweist sich geradezu prädestiniert für das Spiel mit den Figuren – Goethe lernte die Geschichte bekanntlich in jungen Jahren in Form eines Puppenspiels durch eine Wandertheatergruppe kennen.
Puppen sind im Vorteil
Auch Regisseur Nikolaus Habjan ist mit der Faust-Geschichte seit seiner Jugend vertraut. Zudem ist es nicht das erste Mal, dass sich der 1987 in Graz geborene Kunstpfeifer, Puppenspieler und –bauer an das Drama wagt. 2016 inszenierte er „Faust. Eine Tragödie“ im Grazer Jugendtheater „Next Liberty“. Gerade in der Figur des Gretchen sieht er für die Jugend eine „perfekte Identifikationsfigur, während man den Faust selbst wohl erst verstehen kann, wenn man die erste große Lebenskrise durchlebt hat“, so der künstlerische Tausendsassa, der mit seinen Stücken in den letzten Jahren dafür gesorgt hat, dass das Figurentheater auch an den großen Bühnen dieses Landes breite Resonanz erfährt. (Im Mai 2019 gastierte er mit einer „Oberon“-Bearbeitung von Carl Maria von Weber im Theater an der Wien. Im Jänner wird er dort Strauss‘ „Salome“ realisieren.)
Ärgerlich findet es Habjan allerdings, wenn Gretchen lediglich als „Kollateralschaden“ verstanden wird. Das Ende in der Kammeroper birgt dementsprechend eine Überraschung. Bis es allerdings soweit ist, darf man sich von den Puppen auf der Bühne verzaubern lassen. Tatsächlich ist es immer wieder erstaunlich, wie wenig an Mimik reicht, um ein ganzes Spektrum menschlicher Gefühle in eine Figur zu interpretieren. Teuflisch rot blitzen die Augen des Mephistopheles im Scheinwerferlicht – von der Liebe beseelt scheinen Faust und Gretchen durch die Luft zu schweben. Ist die Verbindung zum Puppenspieler erst einmal getrennt, wird das belebte Wesen zum Objekt. Diesbezüglich sind Puppen Schauspielern gegenüber „klar im Vorteil, wenn es ums Sterben geht“, findet nicht nur Habjan. Es hat beinahe etwas Geisterhaftes, wenn die Valentin-Puppe von Gretchens erdolchtem Bruder regungslos am Boden liegt, während Puppenspieler und Sänger Kristján Jóhannesson wie ein Geist wirkend seine Schwester verflucht. Der Grund: Trotz anfänglicher Verweigerung gelingt es Faust die Schöne zu erobern und verlässt sie als sie schwanger ist. Auch in punkto dargestellte Sexualität scheinen es Puppen im Vergleich zu den ihnen zur Seite gestellten menschlichen Akteuren offensichtlich leichter zu haben. Während die Liebesszene im dritten Akt für die Schauspieler, die mit Singen beschäftigt sind, im Normalfall in gerade einmal in einem Kuss gipfelt, küssen sich die Puppen schon nach kurzer Zeit. Wenig später verschwinden sie in einem Kissenpolster.
Von der Keimzelle zur Schlüsselszene
Eingebettet wurde die Handlung in eine fragile Drahtkonstruktion von Bühnenbildner Jakob Brossmann (Lampedusa im Winter), die dem Innenraum einer Kirche nachempfunden ist. Nicht ohne Grund: So wird die Kirchenszene – es war die erste die Gounod vertonte – als Keimzelle der Oper angesehen. Auch für die Aufführung im Theater an der Wien in der Kammeroper entpuppt sich diese rückblickend als Schlüsselszene – metaphorisch und die Handlung vorwegnehmend wird die Gretchenpuppe ans Kreuz geschlagen, während die leibliche Margarethe (entzückend trotz Indisponiertheit an jenem Abend: Jenna Siladie) noch mit Menschen und Dämonen ringt. Allen voran der durchtriebene Mephistopheles, der aufgrund des stimmlichen Ausfalls seines Spielers Dumitru Madarasan ausnahmsweise von Derrick Ballard verkörpert wurde – was sich definitiv nicht als Fehler herausstellte. Als einzige menschengroße Figur treibt Mephisto auf der Bühne sein Unwesen während die anderen Puppen – ebenso wie die Orchestergröße – aufgrund der räumlichen Verhältnisse in der Kammeroper geschrumpft wurden, was ihrer Wirkung jedoch keinen Abbruch tut. Auch ein vors Gesicht gehaltener Kopf versteht im Falle von Marthe Schwertlein (Juliette Mars), die sich den Leibhaftigen persönlich angeln will, zu amüsieren. Eine von mehreren komischen Stellen (putzig-komisch wirkt auch das teuflische Treiben in der Walpurgisnacht), eines – trotz dreieinviertel Stunden dauernden – kurzweiligen Abends.
Faust
Libretto von Jules Barbier und Michel Carré nach Johann Wolfgang von Goethes Faust I
Orchesterfassung von Leonard Eröd
In französischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Weitere Aufführungen: 9. / 11. / 14. / 16. / 18. / 20. / 23. und 30. Oktober 2019, 19.00 Uhr
Theater an der Wien in der Kammeroper
Fleischmarkt 24
1010 Wien
https://www.theater-wien.at/de/theater/kammeroper
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