65.000 österreichische Jüdinnen und Juden wurden während der NS-Diktatur ermordet. Die Geschichte des Holocausts und des damit in Verbindung stehenden unermesslichen menschlichen Elends wurde in Österreich lange Zeit nicht aufgearbeitet. Erst langsam setzte in der Nachkriegszeit ein Bewusstsein für die Verantwortung Österreichs an diesen Verbrechen ein. Seit der Jahrtausendwende versorgt die Plattform erinnern.at – das Institut für Holocaust-Education des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF) – österreichische Lehrerinnen und Lehrer mit Unterrichtsmaterialien zu diesem schwierigen Thema.

Die Kulturfüchsin sprach mit Moritz Wein, stellvertretender Geschäftsführer von erinnern.at, über neue Herausforderungen im digitalen Zeitalter und verstärkten Handlungsbedarf.

erinnern.at wurde im Jahr 2000 mit Sitz in Bregenz gegründet – wieso in jener Zeit und warum gerade in Vorarlberg?

Die Gründung von erinnern.at erfolgte nach einem Memorandum of Understanding mit Israel, in dem Österreich sich verpflichtet hat in der Holocaust-Education tätig zu werden. Für Bregenz hat man sich entschieden, weil mit Dr. Werner Dreier – der Gründungsgeschäftsführer von erinnern.at – der Experte für Holocaust-Education in Österreich in Vorarlberg ansässig war.

erinnern.at wurde als dezentrales Netzwerk mit so genannten Bundesländer-KoordinatorInnen geschaffen. Wie läuft die Zusammenarbeit ab?

Ein wichtiger Punkt unserer Arbeit ist, die Erinnerung an den Holocaust und die Verbrechen des Nationalsozialismus lokal zu verankern. Es gibt in jedem Bundesland ein bis zwei Koordinatoren, die eigene Webseiten betreuen und von dort aus, auf niederschwellige Weise, unterschiedliche regionale Materialien für den Unterricht anbieten sowie lokale Projekte initiieren. Wir tauschen uns wöchentlich aus und zwei Mal im Jahr haben wir zudem eine Sitzung, bei der das Kernteam und die Bundesländer-KoordinatorInnen mit den Verantwortlichen im Bildungsministerium zusammentrifft.

Ein bundesländerübergreifendes Projekt ist das Zeitzeugen-Programm, im Rahmen dessen Sie ZeitzeugInnen vermitteln, die in Schulen kommen und dort über ihre Erfahrungen sprechen. Was für Erfahrungen haben Sie seit Bestehen des Projektes gemacht und wie wird das Programm von SchülerInnen und LehrerInnen aufgenommen?

Das Zeitzeugen-Programm wird nach wie vor sehr gut angenommen – vor allem in Gedenkjahren. Als 2018 – dem „Anschluss“ vor damals 80 Jahren – gedacht wurde, haben sich sehr viele Schulen an uns gewendet. Man muss bedenken, dass ein Besuch eines Zeitzeugen für Lehrer und Lehrerinnen immer ein beachtliches Ausmaß an Mehrarbeit bedeutet. Die Gespräche zwischen den ZeitzeugInnen und den Schülerinnen und Schülern sind dialogorientiert. Das bedeutet, der Besuch muss vor- und nachbearbeitet werden. Zu diesem Zweck stellen wir Videos zur Verfügung, die sich die Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit den Lehrern im Vorfeld anschauen können. Ein Aspekt, der Aufarbeitung bedarf, besteht zum Beispiel in der sprachlichen Komponente. Ältere Menschen sprechen anders als jüngere. Sie verwenden beispielsweise andere Wörter.
Im vergangenen Jahr haben 14 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen 178 Schulen besucht und damit 7.698 Schüler und Schülerinnen erreicht. Dieses Jahr mussten wir die Besuche wegen Corona leider einstellen. Wir erproben gerade inwieweit das Video-Konferenzprogramm Zoom geeignet erscheint.

Die Erwähnung der Videos bringt mich natürlich zur Frage: Wie sieht die Zukunft aus? Mit dem Sterben der letzten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen rückt das Programm vermutlich generell immer mehr in den digitalen Raum? Wie gehen Sie damit um?

Die Frage nach der Zukunft des Zeitzeugenprogramms ist eine, die wir uns von Anfang an intensiv gestellt haben. Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die anfangs sehr aktiv bei uns waren, sind mittlerweile verstorben. Das heißt auch: die Geschichten, die Zeitzeugen erzählen, haben sich in den letzten 20 Jahren stark verändert. Jene, die aktuell noch Schulen besuchen, sind zumeist um 1937 geboren, was bedeutet, sie berichten eher von Flucht oder erzählen von den Erfahrungen der Eltern. Diese Überlebenden sind so genannte „Child Survivor“, die die Verfolgung natürlich aus einer anderen Perspektive erlebt haben. Ihre Berichte unterscheiden sich also von jenen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die um 2000 an die Schulen gingen. Videos sind sicher ein hilfreiches Tool, können aber die persönliche Begegnung nicht ersetzten. Eine gute Möglichkeit Videos zu nützen, ist die lokale Ebene. Auf der Website www.weitererzaehlen.at bieten wir sämtliche Interviews verschlagwortet an. Der Lehrer/die Lehrerin kann nach einem bestimmten Ort suchen – beispielsweise dem Schulstandort – und ein paar Minuten aus einem mehrstündigen Video (die jenen Ort betreffen) für Unterrichtszwecke verwenden. Das ist etwas, was sehr gut angenommen wird. Wir haben auch die Lernapp „Fliehen vor dem Holocaust“ entwickelt – ausgezeichnet mit dem World Didactic Award – in der fünf Personen jeweils 20 Minuten von ihren Erfahrungen auf der Flucht sprechen. Innerhalb der App besteht die Möglichkeit Fragen zu stellen und sie direkt in der Gruppe zu diskutieren. Das ist ein Programm, das in Distance-Learnig-Zeiten stark verwendet wird. Eine Entwicklung, die wir gerade stark bemerken, ist, dass immer mehr Personen der zweiten oder dritten Generation sich an uns wenden und das Bedürfnis haben die Geschichten ihrer Eltern oder Großeltern zu erzählen. Da sind wir gerade dabei Möglichkeiten zu erproben.

Ein großes Thema bei erinnern.at sind auch die Vernichtungslager der Nationalsozialisten. Sie bieten vor allem Hilfestellungen für Lehrerinnen und Lehrer, die eine Besichtigung planen. In Ausschwitz verfügt Österreich über einen Länderpavillon mit einer neu überarbeiteten Ausstellung, die demnächst eröffnet werden soll. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit?

Wir kooperieren mit vielen Gedenkstätten und stellen für Pädagogen, die einen Besuch planen, unterschiedliche Materialien zur Verfügung. Wobei wir auch hier versuchen, die Geschichte zu lokalisieren. Es soll keineswegs der Eindruck entstehen, der Holocaust sei nur in Auschwitz oder Mauthausen passiert. Er hat in der unmittelbaren Umgebung begonnen. Besonders bei älteren Schulen interessant ist, die Geschichte der jüdischen Schüler und Lehrer, die flüchten mussten oder in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten ermordet wurden. Auch die Umgebung von Schulen ist etwas, was wir stark einzubinden versuchen. An wen erinnern beispielsweise die Straßennamen? Gibt es Denkmäler zum Thema? Auch hier entwickeln wir gerade eine App, die sich mit den unterschiedlichen Erinnerungsorten befasst, um diese Plätze stärker im Bewusstsein zu verankern. Oftmals sind das Orte, wo kleine Erinnerungszeichen von Vereinen oder aufgrund von persönlichen Engagements gesetzt wurden. Ein Projekt, das sich mit solchen Erinnerungsorten beschäftigt, ist die digitale Erinnerungslandkarte DERLA, die von erinnern.at gemeinsam mit dem „Centrum für Jüdische Studien der Karl-Franzens-Universität Graz“ entwickelt wird. Eine andere Lernwebsite zum Thema ist alte neue Heimat, die von Dr. Horst Schreiber in Tirol betrieben wird. Schülerinnen und Schüler finden auf der Seite Interviews mit 1939 vertriebenen Innsbrucker Jüdinnen und Juden. Die Schülerinnen und Schüler kennen alle diese Orte – sie gehen täglich daran vorbei.

Seit kurzem können Interessierte auch eine Online-Ausstellung zum Thema Novemberpogrome besuchen. Diese wurden bekanntlich besonders euphorisch von der österreichischen Bevölkerung ausgeführt? Wieso dieses neue Format?

Seit September verfügt unsere Website über ein neues Design. Ein wichtiger Grund für den Relaunch war der Bedarf an neuen technischen Möglichkeiten, die es uns erlauben, eine größere Anzahl von Bildern, Videos und Texten online zu stellen. Geplant ist auch vermehrt Materialien aus der von uns herausgegebenen Buchreihe „Nationalsozialismus in den Bundesländern“ online zugänglich zu machen. Das Format der Online-Ausstellungen erlaubt uns zudem sämtliche dieser Materialien übersichtlich strukturiert und kompakt darzustellen. Die Ausstellung zu den Novemberpogromen war die erste. Weitere Themen werden in nächster Zeit folgen. Auch hier werden wir stark mit Zeitzeugeninterviews arbeiten – allerdings in didaktisierter, das heißt in gekürzter und zum Thema passend aufgearbeiteter Form.
Womit wir zum Beispiel auch gerade beschäftigt sind, ist eine Online-Version unserer Wanderausstellung „darüber sprechen“, die wir im Jahr an circa 30 Schulen zeigen. Diese soll künftig ebenfalls komplett online zugänglich sein.

Das Augenmerk von erinnern.at liegt generell bei der Diskriminierung – was bieten Sie diesbezüglich für Materialien an? Und bemerken Sie seit dem Terror-Anschlag in Wien vor mehreren Wochen einen Anstieg der Nachfrage? Werden und können Sie auf solche Vorkommnisse reagieren, um nicht noch mehr Hass Vorschub zu leisten?

Vermehrte Anfragen von Lehrpersonen sind mir in den letzten Wochen nicht aufgefallen. Etwas, was wir von Lehrerinnen und Lehrern aber regelmäßig hören, sind Erzählungen von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund, die sagen, der Holocaust, das ist „eure Geschichte, das hat mir mir nichts zu tun“. In diesem Fall raten wir den Lehrpersonen auf die globale Dimension des Holocausts und der Verbrechen der Nationalsozialisten zu  zu verweisen. Beim Besuch der Gedenkstätte Mauthausen wird das für Schülerinnen und Schüler schnell ersichtlich: die Rundgänge beginnen oft im Denkmalpark, dort stehen Erinnerungszeichen aus der ganzen Welt. Für Schülerinnen und Schüler mit familiären Bezügen nach Albanien und dem Kosovo ist das albanische Denkmal besonders spannend – im KZ Mauthausen wurden mehr als 300 Albaner ermordet.

Auch in solchen Fällen gilt es verstärkt Bezüge und Verbindungen herzustellen. Was wir diesbezüglich auch anbieten, ist das Lernmaterial „Fluchtpunkte. Bewegte Lebensgeschichten zwischen Europa und Nahost“. Dabei geht es um eine Verflechtung der Geschichte Europas mit der des Nahen Ostens – vor allem anhand konkreter Lebensgeschichten. Darin findet sich auch die Geschichte der Wiener Neustädter Jüdin Batya Netzer, die 1938 in einen Kibbutz nach Palästina, dem späteren Israel flüchtete. Im arabischen Nachbardorf zu ihrem Kibbutz lebte Fatima Hamadi, die 1948 nach Syrien und 2016 nach Deutschland flüchtete. Im Lernmaterial setzen wir diese Geschichten nicht gleich. Unterschiede werden deutlich, aber auch Ähnlichkeiten auf der persönlichen Ebene. In der schulischen Beschäftigung mit diesen Biographien wird klar: Europa und der Nahe Osten sind eng miteinander verflochten.  

Allgemein zum Thema Diskriminierung arbeiten wir mit dem digitalen Lerntool „Stories that Move“: In einem interaktiven und digitalen Klassenzimmer können sich Jugendliche zum Thema austauschen. Sie werden konfrontiert mit Video-Interviews mit Jugendlichen, die von ihren Diskriminierungserfahrungen erzählen, etwa von Rassismus, aber auch von Behindertenfeindlichkeit oder Homophobie.
Die Schule ist letztendlich immer ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Migration und wie wir damit umgehen spiegelt sich auch im Klassenzimmer wider. Was wir auch zur Verfügung stellen sind Lernmaterialien in einfacherer Sprache zu bestimmten Themen für jene Jugendlichen, die die Sprache noch nicht so gut beherrschen.

Dass man sich an Sie wendet, geschieht allerdings auf rein freiwilliger Basis. Was ist im Lehrplan vorgeschrieben? Inwieweit decken sich diese Vorgaben mit dem Angebot bei Ihnen auf der Website?

Es stimmt, eine Verpflichtung sich an uns zu wenden, gibt es nicht. Der Lehrplan sieht zwar vor über den Holocaust zu reden, lässt den Lehrerinnen und Lehrern aber viele Freiheiten. Das ist auch gut so, auch deshalb, damit jeder/jede die Möglichkeit hat, verstärkt persönliche und regionale Ankerpunkte zu setzen. Wir veranstalten regelmäßig Seminare, die freiwillig besucht werden können. Das sind schwere Themen, darauf muss man sich einlassen können, das geht schwer mit einer Verpflichtung. Was uns aber beispielsweise aufgefallen ist, ist, dass das Durchschnittsalter der Lehrerinnen und Lehrer, die an den Seminaren teilnehmen, geringer wird. Viele kommen gerade von der Ausbildung und haben das Gefühl auf der Uni nur unzureichend zu diesem Thema ausgebildet worden zu sein.

Wo sehen Sie in nächster Zeit Handlungsbedarf? Was ist verbesserungswürdig?

Unsere Arbeit ist vor allem auf der ersten Ebene der Prävention angesiedelt. Verstärkten Handlungsbedarf sehe ich auf der zweiten Ebene – das heißt, wenn es in einer Schule bereits einen Vorfall gegeben hat, bei dem sich ein Schüler oder eine Schülerin antisemitisch oder rassistisch geäußert hat. Wir sind gerade dabei spezielle Lehrangebote zu entwickeln, die den Lehrerinnen und Lehrern helfen sollen darauf zu reagieren – auch hier gilt herauszufinden, worin die Gründe für derartige Vorkommnisse liegen. Das ist natürlich eine große Herausforderung für die jeweiligen Pädagoginnen und Pädagogen und ich hoffe, dass wir auch hier zukünftig verstärkt Hilfestellung leisten können.

Zur Person
Moritz Wein, MA, studierte Politikwissenschaft in Wien, Paris und Marburg.
Er verfasste seine Masterarbeit zu Politiken gegen
Antisemitismus des Europäischen Parlaments. 
Erste Erfahrungen sammelte er im Referat für Menschenrechte
der ÖH Bundesvertretung, beim Verein Gedenkdienst 
sowie als Geschichtsvermittler an der Gedenkstätte Mauthausen. 
Seit 2016 ist er bei erinnern.at 
unter anderen für Projektarbeit und Kommunikation zuständig.

https://www.erinnern.at/

Titelbild: Beispiel für lokale Verankerung einer schulischen Erinnerungskultur – SchülerInnen recherchieren die Lebensgeschichten zu den Namen auf dem Dornbirner Gedenkstein für Opfer des Nationalsozialismus © erinnern.at

Geschrieben von Sandra Schäfer