Seit 1928 ist das Esperantomuseum Teil der Österreichischen Nationalbibliothek.
Warum die Plansprache Esperanto auch heute, rund 130 Jahre nach ihrer Erfindung, noch so fasziniert, was es sonst noch für Plansprachen gibt und wieso die Wiener Sammlung weltweit einzigartig ist, erfuhr die Kulturfüchsin bei einem Gespräch mit dem Leiter der Sammlung des Wiener Esperantomuseums Bernhard Tuider.
Herr Tuider, wieso braucht der Mensch neben der Vielzahl an natürlich gewachsenen Sprachen noch Plansprachen?
Die Motive, eine Plansprache zu schaffen, waren und sind sehr unterschiedlich. Relativ viele Plansprachen hatten den Zweck, die internationale Kommunikation zu erleichtern, zum Beispiel Esperanto oder Ido. Einige Plansprachen wie beispielsweise Weltdeutsch oder die Neuslawische Sprache wurden kreiert, um bestimmte ethnische Gruppen zu stärken. Manche Plansprachen sind aus einem spielerischen Umgang mit Sprache entstanden, zum Beispiel Starckdeutsch. Andere sind Auftragswerke für Romane, Film oder Fernsehen. Bekannte Beispiele sind Klingonisch aus der Serie „Star Trek“ oder Dothraki aus der Serie „Game of Thrones“.
Bereits in der Frühen Neuzeit haben sich Pädagogen, Mathematiker und Philosophen mit Plansprachen auseinandergesetzt. Unter diesen Gelehrten waren René Descartes, Gottfried Wilhelm Leibniz oder John Wilkins. Diese frühen Plansprachen werden auch philosophische Sprachen genannt und dienten nicht der Überwindung der Sprachbarrieren, sondern sie waren eine Art frühes Klassifikationssystem. Ihre Schöpfer wollten in gewisser Weise die Welt auf eine rationale Art klassifizieren und so durch Sprache „das Denken in geordnete Bahnen“ leiten.
Auch sogenannte natürliche Sprachen unterliegen planerischen Einflüssen und haben zum Teil plansprachliche Elemente, vor allem auf der Wortebene. Das Wort „Gas“ zum Beispiel wurde im 17. Jahrhundert von dem Arzt und Naturforscher Johan Baptista van Helmont eingeführt und fand durch seine Schrift „Ortus medicinae“ Eingang in den Sprachgebrauch. Seine parallele Wortschöpfung „Blas“ hingegen fand keine Verwendung und geriet in Vergessenheit. Dieses Beispiel zeigt sehr gut, dass nicht vorab gesagt werden kann, weshalb sich ein Wort durchsetzt und ein anderes nicht.
Sie verwahren in der Sammlung des Esperantomuseums, die an die Österreichische Nationalbibliothek angeschlossen ist, rund 500 Plansprachenprojekte. Wieso war vor allem Esperanto so erfolgreich? Und welche Plansprachen konnten sich noch über eine große Anhängerschaft freuen?
Die erste Plansprache, die eine größere Sprachgemeinschaft hervorgerufen hat, war „Volapük“ von Johann Martin Schleyer. Der Wortschatz des Volapük stammt vor allem aus dem Englischen – das wird auch am Namen selbst deutlich: das Wort „vol“ ist eine Ableitung von „world“, und das Wort „pük“ stammt von „to speak“. 1880 entstand das erste umfangreiche Volapük-Lehrbuch, das 1888 bereits die 9. Auflage erreichte. 1881 erschien die erste Zeitschrift. Die Sprache verbreitete sich in den 1880er-Jahren rasch, vor allem unter Intellektuellen und im Bürgertum. Sie verlor aber nach 1887 – nach der Veröffentlichung des Esperanto – zunehmend an Bedeutung. Volapük war nicht so leicht zu erlernen, wie Johann Martin Schleyer meinte. Die Aussprache ist nicht ganz einfach, weil Volapük viele Umlaute enthält, und auch die Volapük-Grammatik hat sich im direkten Vergleich mit der Esperanto-Grammatik als zu kompliziert erwiesen.
Dafür, dass sich Esperanto relativ rasch verbreitete, und noch innerhalb des 19. Jahrhunderts den Sprung von einer Plansprache zu einer lebenden Sprache schaffte, gibt es mehrere Gründe. Esperanto hat eine „klare“ Lautstruktur, die ein wenig dem Italienischen ähnelt – wie im Italienischen enden auch in Esperanto viele Wörter mit einem Vokal. Die Grammatik des Esperanto umfasst nur relativ wenige Regeln, die sehr einprägsam sind. Außerdem haben auch viele Volapük-Sprecher begonnen Esperanto zu lernen. Aber wahrscheinlich der wichtigste Grund, weshalb sich Esperanto rasch und dauerhaft verbreitet hat, ist das Sprachkonzept von Ludwik Zamenhof. Zamenhof sah sich nicht als Erfinder, sondern „nur“ als Initiator des Esperanto. Dementsprechend hat er die Sprache so konzipiert, dass sie von der Sprachgemeinschaft weiterentwickelt werden kann. Das ist dann auch schon sehr früh geschehen und hat sich fortgesetzt bis in die Gegenwart.
Wieso war Zamenhof als Augenarzt befähigt eine derartig erfolgreiche Sprache zu konzipieren?
Die Herkunft Ludwik Zamenhofs spielte eine wesentliche Rolle für seine Arbeit an einer Plansprache. Zamenhof war von Kindheit an von verschiedenen Sprachen umgeben und ist dementsprechend mit einem starken Bewusstsein und einer großen Sensibilität für Sprachverschiedenheiten aufgewachsen. Als Erstsprachen hatte er Jiddisch und Russisch, er lernte bereits früh Polnisch und in der Schule dann noch Deutsch, Französisch, Englisch, Latein und Griechisch. Bereits während seiner Schulzeit in Białystok und Warschau und danach während seines Medizinstudiums in Moskau, Warschau und Wien hatte Zamenhof erlebt, dass Sprachen auch Barrieren bilden können, und dass diese Barrieren auf Grund der Vielzahl an Sprachen, die es gibt, noch verstärkt werden. Er hat sich deshalb schon als Schüler im Gymnasium mit einer Plansprache auseinandergesetzt und erste Entwürfe ausgearbeitet. Aus verschiedenen Gründen hat er sein Sprachprojekt aber erst nach dem Abschluss seines Medizinstudiums 1887 veröffentlicht, unter dem Titel „Internacia Lingvo“. Dieses erste Esperanto-Lehrbuch veröffentlichte er 1887 in vier Sprachen – Russisch, Polnisch, Französisch und Deutsch. Auf der Grundlage des „Unua Libro“ sind dann in den 1890er-Jahren in weiteren Sprachen Esperanto-Lehrbücher erschienen. Sie bildeten die Basis für eine kontinuierliche Literaturproduktion. Esperanto hat sich deshalb auch relativ rasch verbreitet, zunächst in Europa und noch vor dem Ersten Weltkrieg in Nordamerika, Südamerika, Asien und Australien. Seit dem Jahr 1905 gibt es auch jährlich Esperanto-Weltkongresse, die nur während der beiden Weltkriege nicht organisiert wurden. Der erste Esperanto-Weltkongress fand 1905 in Frankreich, in Boulogne-sur-Mer, statt.
Auf einem Bild eines solchen Kongresses, das im Museum hängt, sieht man, dass viele Frauen zu den Esperantisten zählten. Wer sprach damals alles Esperanto?
Das stimmt, im Vergleich zu anderen Kongressen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts organisiert wurden, haben viele Frauen an Esperanto-Weltkongressen teilgenommen und die Sprache gesprochen. Teilnehmer der ersten Esperanto-Weltkongresse kamen vor allem aus dem Bürgertum. Dennoch waren die Esperantosprecher schon im 19. Jahrhundert eine relativ heterogene Gruppe. Zum Beispiel haben an diesen ersten Esperanto-Weltkongressen sowohl Pazifisten als auch Offiziere teilgenommen. Diese Heterogenität hat vor allem nach dem Ersten Weltkrieg stark zugenommen und es haben – so wie auch heute noch – verschiedene soziale Gruppen Esperanto als Mittel zum Zweck – zur transnationalen Kommunikation – verwendet: Katholiken und Protestanten, Pazifisten und Offiziere, Arbeiter und Wissenschafter, Vegetarier und viele andere.
Die Zwischenkriegszeit war gleichsam eine Blütezeit des Esperanto in Österreich, aber auch in vielen anderen, vor allem europäischen Ländern. In den 1920er-Jahren gab es in Österreich Esperanto-Kurse in Radio Wien und in vielen Zeitschriften, es gab Kurse bei der Post, der Bahn, der Polizei, und ab 1926 war Esperanto ein Freifach an Schulen.
Die einen feierten Esperanto, den anderen war sie ein Dorn im Auge. Wieso wurde Esperanto beispielsweise zur Zeit des Nationalsozialismus verboten?
Die Sprache Esperanto hat im Grunde seit 1887 immer wieder Menschen polarisiert, dementsprechend gab es auch in der Zwischenkriegszeit sehr unterschiedliche politische Praxen in Bezug auf Esperanto. Zu Beginn der 1920er-Jahre haben sich beim Völkerbund in Genf besonders Delegierte von kleineren, neugegründeten Staaten dafür eingesetzt, dass Esperanto obligatorisch an Schulen unterrichtet wird. Diese Diskussion ist dann aber Mitte der 1920er-Jahre relativ abrupt abgebrochen worden mit der Begründung, dass es bereits eine Weltsprache gäbe – Französisch. Interessanterweise hatte Esperanto vor allem in Österreich relativ lange politische Unterstützung. 1924 und 1936 fanden die Esperanto-Weltkongresse in Wien statt, 1936 zu einem Zeitpunkt, als Esperanto-Vereinigungen im Deutschen Reich bereits verboten waren. 1927 erfolgte die Gründung des Esperantomuseums, auch mithilfe politischer Unterstützung der Bundeskanzler Johann Schober und Ignaz Seipel, und 1934 tagte im Parlament eine internationale Konferenz zum Thema „Esperanto in Schule und Praxis“. Die positive Entwicklung des Esperanto wurde dann durch den Nationalsozialismus unterbrochen. Viele Nationalsozialisten bezeichneten Esperanto als Judensprache, 1938 erfolgte ein Verbot für Esperanto-Vereinigungen in Österreich, und das Esperantomuseum wurde noch im März 1938 geschlossen.
Was ist das Besondere der Wiener Sammlung?
Das Esperantomuseum der Österreichischen Nationalbibliothek ist weltweit eines der ältesten Sprachmuseen und eine der bedeutendsten Einrichtungen seiner Art. Erst in den vergangenen 20 Jahren sind vermehrt Sprachmuseen entstanden, seit dem Jahr 2000 mehr als 30, darunter auch zwei weitere Esperantomuseen – eines in China, in Zaozhuang, und eines in Tschechien, in Svitavy.
Das Besondere am Esperantomuseum ist, dass von Anfang an umfassend zum Thema Plansprachen gesammelt worden ist, also nicht nur Literatur in und über Esperanto. Bemerkenswert ist auch, dass der Bestand während der Zeit des Nationalsozialismus nicht zerstört wurde und es die weltweit umfangreichste Sammlung zu den Themen „Esperanto, Plansprachen und Interlinguistik“ ist. Neben den Exponaten im Esperantomuseum bewahrt die Sammlung für Plansprachen der Österreichischen Nationalbibliothek momentan zirka 40.000 Flugblätter und Kleinschriften, 35.000 Bibliotheksbände, 25.000 Zeitungsausschnitte, 22.000 Fotos und Fotonegative, 10.000 Autografe und Manuskripte, 3.700 verschiedene Zeitschriftentitel, 3.000 museale Objekte, 1.500 Plakate, 850 audiovisuelle Dokumente und 63 Vorlässe, Nachlässe und Archive institutioneller Provenienz. Ein relativ großer Teil des Bestandes ist bereits digitalisiert und kann über die Webseite der Österreichischen Nationalbibliothek oder direkt in ihrem QuickSearch Katalog geöffnet werden.
In welchen Bereichen findet man Esperantoschriften?
In Esperanto gab es von Anfang an eine literarische Produktion. Schon das erste Buch von Ludwik Zamenhof, „Internacia Lingvo“, enthält zwei original in Esperanto verfasste Gedichte. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert sind vor allem Übersetzungen entstanden, meist von bedeutenden Werken der Weltliteratur. Diese Übersetzungen waren gleichsam „ein Prüfstein“, für die Flexibilität und Ausdruckskraft des Esperanto, und sie haben die Sprache auch weiterentwickelt, weil durch sie der Wortschatz des Esperanto sukzessive ausgeweitet wurde.
Esperanto Literatur – Übersetzungen und Originalliteratur – gibt es in sehr vielen Bereichen: Lyrik und Prosa, wissenschaftliche Texte und Graphic Novels. Es erscheint laufend neue Literatur, in den letzten Jahren zunehmend auch online.
Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gibt es auch Vertonungen von Esperanto-Texten. Die Breite der Musikproduktion reicht von Rock, Pop und Volkstümlichem bis hin zu Reggae.
Gibt es, wie zum Beispiel in der jüdischen Volksmusiktradition des Klezmer, einen typischen Esperanto-Stil?
Einen typischen Esperanto-Stil gibt es nicht. In manchen Liedern ist Esperanto ein Thema im Kontext mit Reisen, flüchtigen Begegnungen und Fernbeziehungen von Personen. In den meisten Liedern in Esperanto bezieht sich der Inhalt aber nicht auf die Sprache.
Wie viele Leute sprechen Esperanto? Und was sind die Motivationen die Sprache zu lernen?
Es gibt nur Schätzungen darüber, wie viele Personen weltweit Esperanto sprechen. Diese Schätzungen reichen von mehreren Zehntausend bis zu zwei Millionen. Die Schätzungen sind sehr unterschiedlich; zum einen deshalb, weil Esperanto in vielen Ländern gesprochen wird, in den einzelnen Ländern aber von relativ wenigen Personen, zum anderen deshalb, weil man in Esperanto innerhalb von vier bis acht Wochen das Sprachniveau B1, selbstständige Sprachverwendung, erreichen kann. Es gibt aber für Esperanto ebenso wie für alle anderen Sprachen keine Norm dafür, ab welchem Sprachniveau man eine Person als Sprecher zählen kann.
Bezüglich der Sprecherzahl ist das Internet ein gewisser Indikator. Auf Facebook haben im Jahr 2016 mehr als 300.000 Personen angegeben, dass sie Esperanto sprechen. Auf der Lernplattform „lernu.net“ haben sich seit dem Jahr 2002 mehr als 280.000 Personen angemeldet, um Esperanto zu lernen, auf „Duolingo“ bisher mehr als 360.000. Die „Vikipedio“, die Esperanto-Wikipedia, gehört mit mehr als 250.000 Artikeln zu den 40 umfangreichsten Wikipedien und enthält mehr Artikel als zum Beispiel die Wikipedien in Dänisch, Kroatisch oder Urdu, einer Sprache, die von zirka 250 Millionen Menschen gesprochen wird. Interessanterweise gibt es weltweit an die 7.000 Sprachen, aber die Wikipedia existiert „nur“ in 295 (Stand: Dezember 2018).
Bleibt noch die Frage zu klären, wie funktioniert Esperanto überhaupt?
Esperanto funktioniert im Grunde so wie andere natürliche Sprachen. Das Spezifische, das Esperanto vielleicht ein wenig speziell macht, ist die besonders schematische Struktur, die aber dennoch eine hohe Flexibilität erlaubt, sowohl im Alltag als auch in der Wissenschaft. Wäre eine flexible Anwendung nicht möglich, hätte sich die Sprache nicht verbreitet und sie würde in der Gegenwart auch nicht mehr gesprochen werden.
Lieber Herr Tuider, um abschließend mit „Google Translate“ zu sprechen: „Dankon pro la intervjuo” – Vielen Dank für das Gespräch!
Tre volonte – sehr gerne!
Zur Person: Mag. Bernhard Tuider wurde im Zuge seiner Diplomarbeit über den Wiener Nobelpreisträger und Esperantisten Alfred Hermann Fried auf Esperanto aufmerksam. Heute ist er Gastlektor für Plansprachen und Esperanto und Teamleiter der Sammlung für Plansprachen und Esperantomuseum an der Österreichische Nationalbibliothek. Zu seinen Forschungsgebieten zählen: Interlinguistik, Esperantologie, historische Friedens- und Konfliktforschung.
Esperantomuseum der Österreichischen Nationalbibliothek
Palais Mollard
Herrengasse 9
1010 Wien
Öffnungszeiten: täglich außer Montag 10.00 bis 18.00 Uhr (donnerstags bis 21.00 Uhr)
Eintritt: 5 Euro /ermäßigt 4 Euro
Nähere Informationen unter: https://www.onb.ac.at/museen/esperantomuseum/
Teilen mit: