Sommer 2010. Farah (Baya Medhaffar) hat gerade mit Bestnoten das Abitur abgeschlossen. Während ihrer Familie ein Medizinstudium vorschwebt, möchte das von der Musik beseelte Mädchen jedoch lieber Musikwissenschaften studieren. Eine Diskrepanz, die auch in anderen Ländern in vielen Familien vorkommen dürfte. Und doch, in Tunesien, bevor Diktator Zine el-Abidine Ben Ali aus dem Land vertrieben wurde, eine um zusätzliche Faktoren erschwerte Entscheidung. Vor allem, wenn man Gesellschaftskritik mit seinen Liedern im Volk verbreiten möchte.

In der Manier einer rebellischen Jugend, die sich um wenig schert, was ihnen ihre Eltern sagen, zieht Farah mit ihrer Band durch die Stadt. Mit Esprit singt sie in einer (Männer)Bar über die lähmende politische Lage im Land. „Auf ihren Schultern werden Paläste errichtet“ oder „dein Kopf platzt durch Erstarrung“: Die Band hat wenig Positives aus dem Land, indem ihre Mitglieder aufwachsen, zu berichten. Auch in diesem Punkt dürfte sich die Lage wenig von anderen Rockbands in anderen Ländern unterscheiden. Und doch: während der erste Teil des Films vor allem von jugendlichem Ungestüm und der Begeisterung durch die Musik getragen ist, holt die Protagonisten im zweiten Teil langsam die Realität ein. Tunesien ist keine Demokratie, in der Künstler ein zwar oftmals von Geldnöten geplagtes Leben fristen, jedoch in der Subkultur durchaus einen fixen Platz im Programmkalender einnehmen können, sondern eine Diktatur mit Spitzeln an allen Ecken und Enden. Selbst vertraute Personen entpuppen sich als vom Regime gebrochen und kooperieren letztendlich mit dem, was sie nicht mehr glauben, ändern zu können.

Mit den Augen der Mutter

Als eine von diesen von den Jahren des Lebens in der Unterdrückung Gebrochene präsentiert sich auch Farahs Mutter (dargestellt von der populären tunesischen Sängerin Ghalia Benali). Sie hat von der harmlos wirkenden Gesangseinlage ihrer Tochter in besagter Bar durch einen alten staatskonformen Bekannten gehört und seitdem verstärkt auf Alarm geschaltet. Doch die Tochter lässt sich nichts verbieten und rebelliert gegen die überstrenge wirkende Mutter. Erscheint diese im ersten Teil noch als gegen das Glück der Tochter agierend, so evoziert die zweite Hälfte des Films mit dem plötzlichen Verschwinden Farahs eindeutig: die Lage ist ernst. Die Polizei hat zugeschlagen und die Mutter setzt alle ihr zur Verfügung stehenden Hebel in Bewegung, um die Tochter zurückzubekommen. Die Sympathie der Zuseherinnen und Zuseher ist längst auch zur Mutter übergeschwappt.

Dieser durch die politische Situation im Land angeheizte Mutter-Tochter-Konflikt ist mit Sicherheit eine Stärke des Films. Im Mittelpunkt des mittlerweile mit zahlreichen Preisen – darunter auch den Publikumspreis beim Filmfestival in Venedig – ausgezeichneten Debüts der jungen tunesischen Regisseurin Leyla Bouzid steht aber eindeutig die Musik und die Leidenschaft der Protagonisten für sie. Selbst einem knarrenden Fensterflügel vermag Farah eine Melodie zu entlocken. Für die Kompositionen, die Farah mit ihrer Band – darunter auch ihre erste Liebe Borhène (Montassar Ayari) – einem dankbaren Publikum vortragen, zeichnete der in London lebende gebürtige Iraker Khyam Allami verantwortlich. Gut ein Drittel des Films wird von musikalischen Einlagen bestritten. Textzeilen wie „wo du auch hingehst, du stehst vor einer Mauer“ und „die Hungernden essen Hohn“ beschreiben vermutlich am Besten die Lage, gegen die die Jugendlichen rebellieren. Sie sind Teil einer Jugend, die nur wenige Monate später auf die Straßen ziehen wird, um den verhassten Diktator, der sich und seiner Familie mit zahlreichen Korruptionsskandalen bereicherte, aus dem Land zu vertreiben. Dass sich für viele Jugendlichen die Lage bis heute in vielen Belangen wenig gebessert hat, ist eine andere Geschichte – Leyla Bouzids Film endet jedenfalls mit einem Hoffnungsschimmer. „Kaum öffne ich die Augen“ ist Tunesiens Beitrag zum Oscar 2017.

À peine j ´ouvre les yeux / Kaum öffne ich die Augen. Ein Film von Leyla Bouzid. Tunesien/Frankreich/Belgien 2015. 102 Min. (Arabische Originalfassung mit deutschen Untertiteln)

Kinostart: 2. Dezember 2016
Filmcasino
Margaretenstrasse 78, 1050 Wien
http://www.filmcasino.at/

Soundtrack
http://www.khyamallami.com/site/#.WD1r15L__dQ

Geschrieben von Sandra Schäfer