Es ist ein lauer Abend, im Theater-Hof der Wohnsiedlung Kabelwerk steht eine Gruppe von Menschen – viele von ihnen halten ein Glas in der Hand, manche unterhalten sich, hin und wieder grüßt jemand im Vorbeigehen – die Stimmung ist entspannt. Wer regelmäßig auf Kultur-Festivals verkehrt, der kennt das angenehme Gefühl, das sich einstellt sobald man vertrauten Boden betritt oder die ersten bekannten Gesichter erblickt. Diesbezüglich bilden die Musiktheatertage keine Ausnahme. Sechs Produktionen, Workshops und Talks gehen dieses Jahr an zwölf Tagen über die Bühne. Das alles hat etwas Familiäres. Nicht nur weil das zum Großteil aus inneren Bezirken ins Meidlinger Werk X angereiste Publikum ein überschaubares ist, sondern auch weil die Protagonisten in der Wiener Musiktheaterszene – und darüber hinaus – keine Unbekannten sind.
Seit vergangenem Jahr zeichnet Thomas Desi – Autor, Regisseur und vielen vor allem durch seine Arbeit im Rahmen des Zoon Musiktheaters bekannt – gemeinsam mit Georg Steker (Produktionen bei Festivals wie die Wiener Festwochen, Wien Modern oder für Linz09 Kulturhauptstadt) für die Musiktheatertage verantwortlich. Eine Besonderheit der diesjährigen, zweiten, Ausgabe: Für alle Veranstaltungen gilt das „Pay-as-you-want“-System. Das heißt, das Publikum entscheidet am Ende der jeweiligen Vorstellung selbst wie viel es bezahlen möchte. Warum man sich für dieses Konzept entschieden habe, erklärt Georg Steker mit der schweren Einordbarkeit der Veranstaltungen. Handelt es sich um Theater, Oper oder doch um ein Konzert? Man wisse es eben selbst nicht immer so genau.
Interdisziplinäre Oper der Entropie
Die Musiktheatertage operieren an den Grenzen diverser Disziplinen, überschreiten und vermischen sie. Kurzum: Man arbeitet betont interdisziplinär. Das macht es dem Publikum oft schwierig einzuschätzen was es erwartet. Genau darin liegt aber auch der Reiz. Wie bei jedem anderen ernsthaften Theater, das sich als Ort der Verhandlung der Gegenwart versteht und letztendlich dadurch neue Sichtweisen, Ideen und Welten kreieren will, muss man sich auch hier auf die Stücke einlassen. Wer nur die Musik oder Bühnenbild und Installationen auf sich wirken lassen möchte, wird aber vermutlich ebenso willkommen sein. Immerhin steht der Veranstaltungsreigen heuer unter dem Motto „Weltflucht“ und was wäre die Kunst, wenn sie ihrem Publikum vorschreiben würde auf welche Weise sie diese zu vollziehen habe und was und ob es überhaupt etwas daraus – nämlich aus dem Fluchtraum Theater – mitnehmen möchte.
Im Rahmen der Eröffnungsveranstaltung – eine begehbare Musiktheater-Installation – ist das Konzept eines offenen interdisziplinären Versuchslabors vielleicht am deutlichsten spürbar. In der ersten Stunde der von Thomas J. Jelinek konzipierten und Jorge Sánchez-Chiong komponierten „Opera of Entropy“ sind die Türen zum Theatersaal geöffnet. Wem die Eindrücke, die sich aus dem Nebeneinander diverser Aktionen beziehungsweise Installationen ergeben, zu viel werden – oder wer schlicht und einfach Durst hat – kann den Saal jederzeit verlassen und später wiederkommen. Die Besucher gestalten, indem sie zwischen den unterschiedlichen Aktionen, die im Theatersaal stattfinden, einen Zugang wählen, selbst ihre Stücke. Das ist nicht unbedingt revolutionär. Denn modernes Theater weiß um die Rolle eines auf das Stück einwirkenden Publikums und versteht es dieses oftmals gekonnt miteinzubeziehen.
Was die „Opera of Entropy“ ungewöhnlich macht, ist die enge Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Wissenschaftlern, die auf der Bühne agieren. So konnte der für seine Arbeit mit offenen Formaten bekannte Regisseur Thomas J. Jelinek für „Opera of Entropy“ u.a. den Neurowissenschaftler Stefan Glasauer und den Medientheoretiker Marian Kaiser gewinnen. Letzterer liefert dem Publikum interessante Einblicke in die Wissenschaftsgeschichte – vom Verhalten der Ameisen bis zur Untersuchung des Wahnsinns. Den bequemen Platz auf dem Sofa gegenüber von Kaiser muss man sich allerdings hartnäckig erkämpfen.
Die Aufmerksamkeit von den anderen im Raum vertretenen Wissenschaftlern zu bekommen fällt ebenfalls nicht leicht. Viele kümmern sich, die Vorbeigehenden nicht beachtend, um ihren eigenen Kram oder sind bereits in Gespräche vertieft. Selbst wenn man es schafft sich einer Diskussion anzuschließen, so ist es unmöglich alles was im Raum vor sich geht zu erfassen.
Ganz wie im Leben stellt sich ob der Vielzahl der vorhandenen Diskurse und des Nicht-Wissens wie man diese unter einen Hut bekommen könnte Ratlosigkeit ein. Dem Titel des Werks entsprechend könnte man auch formulieren: es gelingt einem als Besucher nicht mittels Arbeit (Energie, die aufgewandt wird um zu verstehen) dem entropischen Zustand erfolgreich bis zum Ende des Stückes entgegenzuwirken. Ein Gefühl der Überforderung, das für viele, ob dem Zusammenbruch diverser Gesellschaftssysteme und unüberschaubarer globaler Zusammenhänge, allgegenwärtig scheint. Für Ordnung in musikalischer und choreografischer Hinsicht sorgt im übrigen eine eigens entwickelte Software, die Musikern, Wissenschafts-Akteuren und Visualisten (projiziert wird ausschließlich Material, das in Zusammenhang mit den vorgetragenen Forschungen steht) hilft den richtigen Einsatz zu finden.
Operan! Übers Entkommen
Weitaus minimalistischer gestaltet sich hingegen die Bühne bei Bertl Mütters „Operan! Übers Entkommen“. Fünf Musiker auf ein paar Sesseln und ihre Instrumente, viel mehr gibt es nicht zu sehen. Zu erleben und zu fühlen aber um so vieles mehr. „Sieben Versuchsanordnungen, die sinnlich-musikalisch unterschiedlich verschiedene Aspekte von Entkommen thematisieren“, heißt es zum Stück im Programmheft. Im Publikum sitzend werden die Zuhörer mittels Konglomerat aus Tönen – erzeugt von Possaune (Mütter selbst), Viola (Dimitrios Polisoidis), Akkordeon (Paul Schuberth) und Gesang (Ursula Langmayr und Matthias Helm) – Zeugen und Mitwirkende einer Achterbahnfahrt der Gefühle. Aus banalen Situationen wie das plötzliche Denken an eine Person – „da Edi“ – oder dem Aufstellen einer Behauptung entwickelt sich Hochtrabendes wie Schmerz über den Verlust, Wut oder die durch Fanfare befeuert die Lust am Streit. Dabei warten Mütter und sein Kollektiv oftmals auch mit clownesk und absurd anmutenden Momenten auf. Beispielsweise am Ende, wenn sich die Truppe mit volksmusikalischen „Wohlfühlklängen“ aneinander schmiegt: Weltflucht kann eben auch sich einigeln in der eigenen nationalen Komfortzone bedeuten.
Von Nächten am Polar bis zur Smart Phone Oper
Eine Auszeit vom hektischen Weltreiben kann aber auch durch Rückzug in die Peripherie unternommen werden. Ebendie suchten die Künstler des Kollektivs „Post uit Hessdalen“ auf und tauchten für ein paar Wochen im Schneesturm einer kleinen norwegischen Insel unter. Das Ergebnis – Tagebuch-Auszüge, Fotos und Videos – wird bei den Musiktheatertagen dem Publikum präsentiert. Letzteres kann heuer nicht nur staunend umherwandern und diskutieren sondern sogar selbst komponieren, dirigieren und inszenieren. Mittels einer iOS/Android-App via Smartphone sind Followers dazu aufgefordert gemeinsam eine Oper zu kreieren. Eine Weltflucht via Smartphone, jeden Abend anders.
Ebenfalls im Programm befinden sich dieses Jahr außerdem: das Tanz-Musik-Theater H/A/U/T, das sich der Körperlichkeit von Klang annimmt, „Great Sound in the Rush“ – eine „Opera semi-seria nach einem Text von Sándor Weöres“ inszeniert von Zoltán Balázs – sowie die Oper „Butt“ nach dem gleichnamigen Roman von Will Self, indem eine unachtsam weggeworfene Zigarette eines Urlaubers eine Reihe von kafkaesken Ereignissen auf den Plan ruft. Zu erleben ist das alles noch bis 11. September am „Arsch der Welt“ wie sich das Werk X – das von den Musiktheatertagen angemietet wurde – selbst vermarktet. Den Weg dorthin nimmt man am Besten mit der U6 auf sich – ebenfalls eine Welt für sich, aus der man besonders zu Stoßzeiten gelegentlich flüchten möchte.
Musiktheatertage Wien
Eine Art Weltflucht
Noch bis 11. September 2016
Werk X
Oswaldgasse 35A, 1120 Wien
Für alle Veranstaltungen gilt: Pay as you want
www.mttw.at
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