Wie hätte ich gehandelt? Das ist jene schwerwiegende Frage, die sich viele in Bezug auf die NS-Zeit auch hierzulande schon einmal gestellt haben. Manch einer tritt selbstbewusst vor und behauptet, er hätte nicht geschwiegen, andere sind – abgesehen von jenen, die finden, dass das schon alles gut und richtig war – sich ihres vermeintlichen Verhaltens nicht so sicher.
Die deutsche Stenotypistin und Sekretärin Brunhilde Pomsel musste sich diese Frage nie stellen. 1911 geboren ist die junge und eigentlich an Politik nicht interessierte Frau 22 Jahre alt als Hitler die Macht in Deutschland übernimmt. Zuerst arbeitet sie im Rundfunk, später wird sie Sekretärin von NS-Propagandaminister Joseph Goebbels. Ihre Geschichte ist die einer Mitläuferin und Profiteurin. Mit über 100 Jahren war sie noch einmal bereit über ihr Leben vor der Kamera zu sprechen. Das deutsche Regie-Kollektiv der „Blackbox Film und Medienproduktion“ (Christian Krönes, Olaf S. Müller, Roland Schrotthofer und Florian Weigensamer) hat ihre Erinnerungen aufgezeichnet. Entstanden sind 30 Stunden Gesprächsmaterial, die gemeinsam mit Archivmaterial aus dem „US Holocaust Memorial Museum“ und dem „Steven Spielberg Film und Video Archive“ zum Film „Ein deutsches Leben“ zusammengeschnitten wurden.
Die Doku zeigt eindrucksvoll was passiert, wenn man nur an sein eigenes Wohl denkt und dabei keinerlei soziale Verantwortung übernimmt. Das Gehörte ist erschreckend – und doch bis zu einem gewissen Punkt verständlich zugleich. Verständlich etwa, wenn Brunhilde Pomsel sagt: „Ich könnte keinen Widerstand leisten, ich bin zu feige.“ Man hätte bereit sein müssen mit dem Leben zu bezahlen, das hätte sie nicht gekonnt. Und doch, das muss auch Pomsel eingestehen, haben die Millionen von Menschen, die sich passiv verhalten haben, das System erst ermöglicht. Schuldig fühle sie sich nicht. Wieso auch? Sie habe nichts gemacht.
Über 100 Jahre erlebte Geschichte
Es bleibt im Ermessen der Zuseher, inwieweit sie der betagten Dame über ihr Nicht-Wissen Glauben schenken mögen. Wie Goebbels, der im Film aufgrund von den Erzählungen von Pomsel und eingeblendeten Zitaten zwar ständig präsent ist, aber dabei doch nur einen Randplatz einnimmt, ist sie eine talentierte Rednerin, der man durchaus auch Talent als Schauspielerin zusprechen könnte. Das hält die Zuseher gut 113 Minuten bei der Stange. Ebenso wie die diversen Nahaufnahmen der Kamera, die immer wieder über das Gesicht der Frau gleiten, in das sich 100 Jahre Geschichte eingeprägt haben. Es jagt einem geradezu einen Schauer über den Rücken, wenn sich Brunhilde Pomsel an die ausgelassene Stimmung, die in Berlin im Sommer 1936 herrschte, erinnert. Eine Zeit, deren Ereignisse nur mehr eine Handvoll heute noch lebender Menschen erlebt haben. Der Rest von uns ist auf Geschichtsbücher und Aussagen wie jene von Frau Pomsel angewiesen.
Bedrückend sind hingegen die Aufnahmen jener Menschen, die nur ein paar Jahre später im Warschauer Ghetto bereits halb verhungert für die Rassenstudien der Nazis herhalten mussten. Bilder von bis auf die Knochen abgemagerte Leichen, die von den Straßen in Massengräber deportiert werden, sind wenige Filmminuten später zu sehen.
Frau Pomsel, vor der Kamera sichtlich emotionalisiert, habe von diesen Vorgängen nichts gewusst. Einige Organisationen haben im Vorfeld des Filmstarts darauf hingewiesen, dass es unmöglich gewesen wäre, dass Menschen wie Pomsel nicht über die Verbrechen der Nationalsozialisten Bescheid wussten. Doch um diese Fragestellung, hat sie oder hat sie nicht, geht es im Film jedoch gar nicht so sehr. Gelegentlich hat man das Gefühl, dass die Dame sich die Dinge zurechtlegt. Dann wiederum ist man von ihrer Offenheit und Ehrlichkeit überrascht. Mit klaren Worten schildert sie wie sie sich dem Rat ihres Arbeitgebers – dem Ersten Weltkriegs-Veteran und Nazi der ersten Stunde Wulf Bley, für den sie seine Memoiren tippt – folgend bei der Partei anmeldet. Begleitet wird sie von ihrer jüdischen Freundin Eva. Die Warteschlange ist lang – viele Menschen wollen in die Partei eintreten – und Eva wartet inzwischen im Park. Der Grund warum Frau Pomsel in die Partei will ist kein ideologischer: als Mitglied kann sie einen Job beim Rundfunk erhaschen, den ihr Herr Bley in Aussicht stellt. Sie bekommt den Job und ihre Freundin Eva – die „hübsche, kleine Jüdin“, wie die Männer der Rundfunkanstalt sie bezeichnen – kommt sie dort gelegentlich besuchen. Als Brunhilde Pomsel ab 1942 als Sekretärin für Goebbels arbeitet, soll Eva jedoch nicht mehr kommen. Die Freundin versteht das. 1943 wird sie schließlich deportiert. Der Kontakt scheint da bereits abgerissen. Im Jahr 1950 erkundigt sich Brunhilde Pomsel – nach fünfjähriger russischer Gefangenschaft heimgekehrt – über das Schicksal der einstigen Freundin. Was sie erfährt sind der Namen des Konzentrationslagers und das Jahr in dem Eva dort ermordet wurde. Brunhilde Pomsel ist schockiert: Eva war eine von uns, sagt sie. An dieser Stelle stellt sich erneut große Skepsis ein: Wie kann man nicht wissen, verdrängen, dass die Freundin … ?
Frau Pomsel war damals jedenfalls über ihr Gehalt beim Rundfunk in der Höhe von 250 Mark stolz. Eine Schneiderin mit Kontakten nach Frankreich habe sie angerufen, sobald diese neue Stoffe erhalten habe. Frau Pomsel fühlt sich nicht schuldig. Ob es Gott und Teufel gebe, das wisse sie nicht, aber eines wisse sie – „Gerechtigkeit gibt es nicht“. Das hat fast schon etwas seltsam vertraut Zynisches.
Zeitgleich zum Film erscheint auch ein gleichnamiges Buch mit umfassenden Interviewmaterial mit Brunhilde Pomsel. Ein deutsches Leben. Was uns die Geschichte von Goebbels Sekretärin für die Gegenwart lehrt. Europa Verlag. 208 Seiten. 19,90 Euro. ISBN 978-3-95890-098-1
Ein deutsches Leben. Ein Film von Christian Krönes, Olaf S. Müller, Roland Schrotthofer und Florian Weigensamer. 113 Minuten
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