Hoch hinauf, weit ins Feld und manchmal auch tief in die Erde – wir sind umgeben von Architektur. Hier ein Haus aus dem Biedermeier, dort ein Museum im Stil des Historismus und dazwischen Zeitgenössisches. Eine Stadt gleicht einem Setzkasten, in dem verschiedene (Häuser)Typen, mehr ungeordnet als geordnet, aufeinandertreffen und doch fügen sie sich in den meisten Fällen in ein harmonisches Ganzes. Was aber, wenn dieses Gefüge, an das sich unsere Augen über die Jahre gewöhnt haben, erneut gestört werden soll. Oft ist die Empörung groß. Geschmäcker sind verschieden, Visionen unterschiedlich. Zeiten ändern sich. Manchmal schneller als einem lieb ist. Davon können auch Architekten ein Lied singen. Nicht selten wandern Entwürfe ins Archiv, werden während dem Bauen abgeändert – entweder weil sie den Bauherren nun doch zu gewagt erscheinen oder weil schlicht das Geld ausgeht – oder sie stoßen von Anfang an auf Unverständnis.
Wenn man es genau betrachtet ist eine Stadt immer auch ein Gebilde aus Luftschlössern, ein Sammelsurium gescheiterter Entwürfe und Visionen – eine Stadt, die niemals war und nie sein wird. Und doch spuken einige dieser Entwürfe in irgendeiner Form durch die Gassen. Sei es weil sie Historiker faszinieren, Künstler inspirieren oder Wissenschaftler beflügeln. Denn oftmals ist es auch die Technik, die noch nicht so weit ist, so dass die Ideen eines Architekten Wirklichkeit werden könnten. Man denke beispielsweise an die phantastischen Glaswohnbauten des deutschen Gesamtkünstlers Hermann Finsterlin oder an das gewaltige Kenotaph (ein Scheingrab) für den Physiker Isaac Newton, den Etienne Louise Boullée errichten wollte.
Zu teuer, zu radikal, zu wenig realistisch
Der englische Architekturhistoriker und Blogger Philip Wilkinson kennt sie (vermutlich fast) alle – die Gründe warum Bauten scheitern. Für sein Buch „Phantom Architecture“ hat er einige der Spektakulärsten unter ihnen gesammelt. Für die deutsche Übersetzung, die unter dem Titel „Atlas der nie gebauten Bauwerke“ erschienen ist, zeichnet Lutz-W.Wolf für den dtv Verlag verantwortlich. Wie schon der Vorgänger „Atlas der erfundenen Orte“ besticht der Band durch ansprechendes Design. Mit 30 Euro ist das Buch zudem auch für Nicht-Architektur-Enthusiasten eine leistbare Investition.
Etwas, dass im Fall der monumentalen Wallfahrtskirche, die in einer kleinen Gemeinde in Australien errichtet hätte werden sollen nicht stimmte – die Kosten. Diese waren derart enorm, dass es gerade für die Bronzetüren und riesigen Glasfenster (die heute noch irgendwo verwahrt werden sollen) reichte. Aber auch wenn der Traum von der eigenen Kathedrale für den Benediktinerorden alsbald ausgeträumt war, so wurde das Projekt dermaßen bekannt, dass es dem Architekten Pier Luigi Nervi prestigeträchtige Aufträge für Bauten in Sydney einbrachte.
Nervi ist nicht der einzige bekannte Architekt, der mit nicht realisierten Projekten vertreten ist. Das Buch liest sich stellenweise wie ein „Who is Who“ der Architekturgeschichte. Von Leonardo da Vinci, der eine Stadt auf zwei Ebenen plante, die die Menschen vor den giftigen, wie man damals glaubte, Pest auslösenden Dämpfen beschützen sollte, über Sir Christopher Wren, dessen Entwurf für Londons Wahrzeichen, der St. Pauls Kathedrale, doch zu radikal war, bis hin zu Le Corbusier, Jean Nouvel, Zaha Hadid und Richard Buckminster Fuller. Letzterer erlangte erste Bekanntheit, weil er die Idee hatte Manhattan mit einer geodätischen Kuppel zu überdachen.
Gigantische Pyramiden, Kristallboulevards und begehbare Elefanten
Nur eines von vielen Projekten, das vor allem durch sein gigantisches Ausmaß in Staunen versetzt. So plante der englische Architekt Thomas Wilson beispielsweise eine riesige Pyramide mitten auf dem Londoner Primrose Hill, die Tausende von Grabkammern enthalten sollte. Erdacht hatte er die Idee – die im ersten Moment nicht nur befremdlich anmutet, sondern auch beachtliche Science-Fiction-Qualitäten aufweist (man denke zum Beispiel an die am längsten laufende englische Serie „Dr. Who“) – aufgrund der Explosion der Bevölkerungszahlen zu Beginn des 19. Jahrhunderts.
Immer mehr Menschen zog es im Zuge der Industrialisierung in die Städte. Das forderte auch die Architekten. Eine weitere Reaktion auf das ausufernde städtische Leben stammt von dem, vor allem als Maler bekannten, John Martin. Dieser ersann eine mehrere Arkaden hohe Befestigung entlang der Themse. Neben Panoramen und Flaniermeilen wollte er auch ein ausgeklügeltes Kanalsystem erschaffen, mit dem er das regelmäßig zu Seuchen führende Abwasserproblem in den Griff bekommen wollte. Doch das Geld wurde anderswertig investiert. Auch Joseph Paxton dessen „Crystal Palace“ bei der Weltausstellung für internationales Staunen gesorgt hatte, ging leer aus. Sein mit Glas gedeckter elf Meilen langer Boulevard rund um die Londoner Innenstadt wurde letztendlich nicht realisiert.
Niemals das Licht der Welt erblickte auch der fünfstöckige begehbare Elefant, den Charles Francois Ribart de Chamoust zu Ehren Ludwig des XV. in Paris errichten wollte. An seiner Stelle befindet sich heute der Arc de Triomphe.
Statt Adolf Loos‘ Entwurf einer dorischen schwarzen Säule für den „Tribune Tower“ in Chicago entschied man sich für einen anderen der Zeit mehr entsprechenden Turm. Loos avancierte trotzdem zum Star der Architekturszene. Er ist neben Frederick Kiesler einer der österreichischen Vertreter im Buch. Nicht zustande gekommene Wiener Gebäude finden sich allerdings keine. Schade – gäbe es doch auch von hierzulande einiges berichten. Angefangen vom nie zu Ende erbauten Renaissance-Komplex des Schloss Neugebäude über die geplante unterirdische pneumatische Sargbeförderungsanlage von dem Ingenieur Franz von Felbinger und dem Architekten Josef Hudetz bis bis hin zum unvollendeten Turm des Stephansdoms. Letztere Geschichte kennt nun wirklich jedes Wiener Kind. Grund für die Nichterrichtung war der Teufel.
Wilkinson, Philip: Atlas der nie gebauten Bauwerke. Aus dem Englischen von Lutz-W.Wolf. dtv Verlagsgesellschaft: München 2018. ISBN 978-3-423-28976-4. 255 Seiten. Euro: 30
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