Herr John (Jens Claßen), eine „fixe Größe am Arbeitsmarkt“, lebt mit seiner Frau „im noch lange nicht abbezahlten Eigentumsrefugium“. Nach dem Verlust des ersten Kindes durch den plötzlichen Kindstod hat er seine Samen immer wieder „zur Bank gebracht, jedoch ohne Rendite“ – das „vitale Leben“ will sich einfach nicht einstellen. Da kommt Frau John auf die Idee das uneheliche Kind der ausländischen Pflegekraft Pauline als ihres auszugeben und so nimmt das Drama seinen Lauf oder wie Herr John zum ihm widerfahrenen Unglück traurig formuliert: „Gründergeist weg, Innovationskraft weg“.
Für seine Bearbeitung von „Die Ratten“ setzt Bernd Liepold-Mosser auf eine vom Kapitalismus inspirierte Kunstsprache und transferiert Hauptmanns Klassiker des sozialen Dramas von 1911 gekonnt und unterhaltsam in die Gegenwart.

Zum Gefühl der individuell erfahrenen Katastrophe der Möchtegern-Kleinfamilie John sowie der ihres Kindes beraubten mittellosen Pauline gesellt sich die emotionale Befindlichkeit einer ganzen Generation oder wie Gernot Plass, künstlerischer Leiter des TAG, im Programmheft schreibt: „Versucht man (…) mit der berühmten Vorlage die dramatische Darstellung jener politisch ökonomischen Umstände, unter deren Diktat das Leben heute geraten ist, also des Neoliberalismus, so gerät man schnell auf die mittelschichtigen Abstiegs- und Vereinzelungsängste.“

Hohle Phrasen auf dem Weg zum Nervenzusammenbruch

Die Angst den fixen Job zu verlieren und dadurch in prekäre Lebensverhältnisse zu geraten, der drohende Verlust der sicheren Komfortzone, die Furcht den täglichen Anforderungen nicht standhalten zu können bis hin zur Panik vor Lebensmittelunverträglichkeiten – „die hat doch heute jeder“ um den Nachbarn (zunächst gewöhnungsbedürftig: Georg Schubert) zu zitieren, der sich immer wieder neunmalklug in das Geschehen mischt – reichen die Kerben des über unseren Köpfen schwebenden Damoklesschwertes – geschmiedet im Glanze der schönen heilen Welt des Konsums.

Doch es klafft eine Lücke zwischen den scheinheiligen Versprechungen der neoliberalen „Do-it-yourself“-Kultur und dem (Mensch)Sein. Nahezu entmenschlicht wirken die Figuren auf der Bühne. Vor allem der Nachbar verliert sich in hohler Phrasendrescherei, deren „Weisenheiten“ einem Lebensratgeber entnommen wirken.
Dieser aus vorgefertigten Worthülsen in unzähligen Wiederholungen operierenden Sprache der Protagonisten steht das ausdrucksstarke Spiel von Michaela Kaspar, die als Frau John zur Bestform aufläuft, gegenüber. Es ist die Darbietung einer Verzweifelten, die gerade deshalb mit ihrer skrupellosen unmenschlichen Handlung gegenüber Pauline (durchaus das Wasser reichen kann ihr Lisa Schrammel)  besonders menschlich erscheint. Als Verbündeter zur Seite steht Frau John ihr Bruder Bruno. Verloren streift Raphael Nicholas als eine Art Mann-Kind mit inzestuöser Beziehung zu seiner Schwester, als ein aus dem System Gefallener, durch das sich zuspitzende Unglück auf der Bühne umher. Er ist der gesellschaftliche Abschaum mit dem niemand – schon gar nicht Herr John, der es sich im vermeintlich sicheren Hafen seiner Mittelständigkeit bequem gemacht hat – etwas zu tun haben will. Eine Existenz abseits von gelungener Bonitätsprüfung, erfolgsversprechendem Einsatz von Ressourcen und so weiter und so weiter. Die Endstation heißt vermutlich Gefängnis. Frei erscheinen aber auch die anderen Protagonisten nicht. Im Bühnenbild, das an ein Versuchslabor erinnert, zerfleischen sich statt Ratten Menschen. Harter Tobak ergreifend und unterhaltsam dargestellt.

© Anna Stîcher

Die Ratten
von Bernd Liepold-Mosser frei nach Gerhart Hauptmann
Mit Jens Claßen, Michaela Kaspar, Raphael Nicholas, Lisa Schrammel, Georg Schubert
Weitere Termine: Do 11., Fr 12., Do 25., Fr 26.und Sa 27. April 2019 sowie Di 7., Mi 8., Fr 10., Sa 11., Fr 17. und Sa 18. Mai 2019, 20 Uhr

TAG Theater an der Gumpendorfer Straße
Gumpendorfer Straße 67
1060 Wien
www.dastag.at

Titelbild Foto © Georg Mayer

Geschrieben von Sandra Schäfer