Kaum jemand jedoch schenkte dem unfreundlichen, regnerischen Wetter damals Beachtung – sonnte sich die Politik an der Unterzeichnung des Österreichischen Staatsvertrages im Belvedere; und mit ihr Zehntausende Menschen vor dem Balkon des ehemaligen Schloss des Prinzen Eugen sowie Hunderttausende vor den Radiogeräten. Es war ein langersehntes Ereignis, dem unzählige Verhandlungen vorausgegangen waren.

Frei in Etappen

Österreichs sehnlichst herbeigewünschte Unabhängigkeit startete – geradezu urösterreichisch könnte man sagen – mit einer Mauschelei: „Österreich ist frei“, der an diesem Tag vom damaligen Außenminister Leopold Figl formulierte Satz ging in die Annalen der heimischen Geschichte der Zweiten Republik ein. Er wurde allerdings nicht – wie lange Zeit vermittelt – spontan am Balkon des Belvederes im Anblick der jubelnden Menschenmenge, sondern erstmals im Zuge der Unterschriftleistung der Außenminister der Alliierten im Festsaal des Prinz Eugen´schen Prachtschlosses formuliert. Leopold Figl hatte jene so lautstark verkündeten Worte, an die sich bis heute jene Generation noch immer so lebhaft erinnert, später fürs Radio nochmals gesprochen.

Frei war Österreich zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht so ganz, denn offiziell trat der am 15. Mai 1955 zwischen der Sowjetunion, den USA, Frankreich, Großbritannien und Österreich unterzeichnete Staatsvertrag erst am 27. Juli des gleichen Jahres in Kraft. Zudem befanden sich am Tag der Unterzeichnung und Verkündung noch Tausende alliierte Soldaten im Land. Die letzten zogen Ende Oktober ab.

Als die Welt im Granatenhagel versank

Knapp zehneinhalb Jahre waren seit dem vergangen seit das Land vom Joch des Kriegs befreit worden war. Dieser endete offiziell am 8. Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht in Europa. Während die schon am 27. April 1945 gebildete provisorische österreichische Regierung unter Kanzler Karl Renner bereits ihren Amtsgeschäften nachging, lieferten sich in anderen Teilen Österreichs die alliierten Truppen und versprengte Einheiten der Waffen-SS noch immer kriegerische Scharmützel. Im Fernen Osten tobten nach wie vor Kämpfe zwischen dem japanischen Heer und des US-GIs, die erst Anfang September durch die Unterzeichnung der japanischen Kapitulationsurkunde beendet wurden.
Die verheerende Bilanz des unermesslichen Leids hinterlassenden Krieges: 60 Millionen Tote durch Kriegseinwirkungen, über sechs Millionen Menschen, die in den Konzentrationslagern oder in anderen Haftanstalten kaltblütig ermordet wurden, Millionen Entwurzelte auf der Flucht, dem Erdboden gleichgemachte Städte, eine in noch nie dagewesenem Ausmaß darniederliegende Wirtschaft. 1945 lag das Land am Boden. Der Weg zur Unterzeichnung des Staatsvertrages vom 15. Mai und der damit einsetzenden Unabhängigkeit sollte kein leichter werden, bot auch Österreichs Rolle im Zweiten Weltkrieg Stoff für Diskussionen.

Steiniger Weg zur Unabhängigkeit

Durch den Einmarsch der Deutschen Wehrmacht in Österreich am 12. März 1938 und der daraufhin stattgefundenen „Volksbefragung“ wurde der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich vollzogen. Österreich hörte als eigenständiger Staat zu existieren auf. Eine Entscheidung, die auf fruchtbaren Boden bei allzu vielen Österreichern stieß. Unmittelbar nach dem Anschluss rollten die ersten Transporte mit Gegnern der Nationalsozialisten, darunter namhafte Politiker der Christlich Sozialen Partei sowie der Sozialistischen Partei, in die Konzentrationslager und Gefängnisse der neuen allumfassenden Machthaber. Dort trafen die bis vor kurzem noch ausgeprägt zutiefst feindseligen Kontrahenten auf das gleiche Los der Inhaftierung mit allen seinen schrecklichen Auswirkungen. Damals entstand zwischen den Politikern beider Parteien der Wunsch nach Beendigung der schweren gegenseitigen, selbstzerstörerischen Irritationen in der Ersten Republik und zur Aussöhnung im Sinne der Wiedererrichtung eines unabhängigen Österreichs. Dieser Gedankengang bzw. Zielsetzung wurde in der Tat nach der Befreiung vom nationalsozialistischen Terror 1945 umgesetzt. Eine große Koalition zwischen Schwarz und Rot bestimmte in ununterbrochener Folge 21 Jahre die Geschicke der in seinen Grenzen von vor 1938 wiedererrichteten Republik.

Der Kampf um die Selbstbestimmung

Erklärtes Hauptziel von ÖVP und SPÖ war eine Beendigung der Besetzung durch die alliierten Mächte und damit die volle Wiedererlangung der Souveränität Österreichs. Es gab über die Jahre immer wieder erfolglose Anläufe, Rückschläge, Verhandlungen verliefen nach vorerst vielversprechenden Aspekten im Sand. So wurde sich beispielsweise bereits bei der Konferenz von Teheran, Ende 1943 mit den Regierungschefs der drei Hauptalliierten der Anti-Hitler-Koalition im Zweiten Weltkrieg – Großbritannien, den USA und der Sowjetunion – für die Wiedererrichtung Österreichs ausgesprochen. Zuvor schon war in Moskau die Moskauer Deklaration – das Ergebnis einer Konferenz vom 19. Oktober bis zum 1. November 1943 – verabschiedet worden, bei der die Außenminister der Alliierten den Anschluss Österreichs von 1938 „null und nichtig“ erklärt und bestimmt hatten, dass Österreich wieder frei und unabhängig werden solle. Im Staatsvertrag selbst sollte dann übrigens auch ein Anschlussverbot verankert werden. Problematisch war allerdings Österreichs Rolle der Mitverantwortung. So hieß es ursprünglich: „Österreich wird aber auch daran erinnert, dass es für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands eine Verantwortung trägt, der es nicht entrinnen kann, und dass anlässlich der endgültigen Abrechnung Bedachtnahme darauf, wie viel es selbst zu seiner Befreiung beigetragen haben wird, unvermeidlich sein wird.“

Ein Hinweis auf diese Mitschuld findet sich bereits in der zuvor genannten Österreichischen Unabhängigkeitserklärung, die am 27. April 1945 von den Vertretern der Gründungsparteien der Zweiten Republik – SPÖ, ÖVP und KPÖ – unterzeichnet wurde. Leopold Figl soll den Passus der Mitschuld einen Tag vor der Unterzeichnung des Staatsvertrages herausgestrichen haben. Im April des selben Jahres waren er gemeinsam mit Julius Raab, dem damaligen Bundeskanzler und Staatssekretär Bruno Kreisky in Moskau zu Verhandlungen eingetroffen. Ergebnis dieses Treffens ist das Moskauer Memorandum, das als Vorläufer zum endgültigen Ja zum Staatsvertrag gilt. Noch heute bildet dieses Treffen den Grundstein vieler Geschichten bei denen Wiener Charme, Zitherklänge (Bundeskanzler Julius Raab beherrschte dieses Instrument) und eine gewisse Trinkfestigkeit eine Rolle gespielt haben sollen. Ein Bild, das sich im Übrigen auch im – man kann durchaus sagen – Propagandafilm für Österreichs Unabhängigkeit aus dem Jahre 1952 findet, in der eine futuristische Regierung im Jahr 2000 die Welt mittels Heurigenstimmung von seiner friedenstiftenden Gemütlichkeit zu überzeugen versucht.

Was auch immer die Gründe für die Sowjetunion waren Österreich letztendlich seine Zustimmung zu erklärten – fest steht mit dem Staatsvertrag, der keinerlei Schuldgeständnis mehr enthielt, war ein weiterer Schritt getan, hin zum das Land die nächsten Jahrzehnte prägenden Verständnisses von Österreich als erste Opfer des Nationalsozialismus.

Erst Bundeskanzler Franz Vranitzky relativierte Anfang der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts den bis dahin gern interpretierten Mythos über die Opferrolle Österreichs und erinnerte an die Mitschuld vieler Österreicher an den Verbrechen des Nationalsozialismus. In seiner weltweit mit Beachtung vermerkten Rede an der Universität in Jerusalem am 9. Juni 1993 bat er die Opfer der österreichischen Täter im Namen der Republik um Verzeihung.

Stichwort Neutralität

Warum hatte das jedoch alles so lange gedauert? Ein nicht zu vernachlässigendes Hindernis auf dem Weg zum Staatsvertrag bildete auch im Zuge der bereits in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre aufkeimenden Rivalität zwischen den beiden Sieger- bzw. Supermächten USA und Sowjetunion um die geopolitische Vorherrschaft, der so genannte „Kalte Krieg“. Während der sowjetische Machthaber Stalin – natürlich nicht ohne Hintergedanken – für die Neutralität Österreichs eintrat, standen einer solchen die USA, Großbritannien und Frankreich vorerst teilweise reserviert gegenüber. Im Herbst 1952 sollte das Stichwort „Neutralität“ in Gesprächen zwischen österreichischen und sowjetischen Diplomaten fallen. Russland wollte damit einen Beitritt Österreichs zum westlichen Militärbündnis NATO ausgeschlossen wissen. Die westlichen Alliierten waren skeptisch eingestellt, wollten sie Österreich doch weiterhin westlich orientiert wissen. Schon mit den Geldern aus dem Marshallplan war letztendlich auch das Modell der Marktwirtschaft im Vergleich zur russischen Planwirtschaft beworben worden.
Während der sowjetische Außenminister Molotow Österreich im Staatsvertrag zu einer „Neutralisierung“ verpflichten wollte, sprach sich nun sein US-amerikanischer Gegenpart John Foster Dulles 1954 auf der auf der Außenministerkonferenz in Berlin für die freiwillige Neutralität nach Schweizer Vorbild aus. Erst durch das Versprechen Österreichs auf eine immerwährende Neutralität nach dem Vorbild der Schweiz gestand die Sowjetunion 1955 dem besetzten Österreich den Staatsvertrag und somit die Unabhängigkeit und Souveränität zu. Ein Detail am Rande – vor dem EU-Beitritt musste Österreich mit den ehemaligen Alliierten in Verhandlungen treten. „Die einen sahen die Neutralität in Gefahr, die anderen fürchteten einen Anschluss an Deutschland oder an die Nato“, bekundete Altkanzler Franz Vranitzky erst kürzlich in einem Interview mit dem Kurier. Besonders Russland hegte Bedenken hinsichtlich Österreichs Neutralität. Diese war allerdings nie Teil des Staatsvertrag, sondern in einem eigenem Gesetz deklariert worden.
Das alles ist mittlerweile Geschichte – eine überaus erfolgreiche. Österreich ist vom Nachzügler zum vielbeachteten und wohlhabenden Mitglied der Staatengemeinschaft aufgestiegen. Der Staatsvertrag und die mit ihm in Zusammenhang stehende „immerwährende Neutralität“, die von den damaligen verantwortlichen Politikern Schulter an Schulter erkämpft wurden, haben dazu sicherlich einen wesentlichen Beitrag geleistet. Österreich ist frei und soll es auch im Verlauf seiner weiteren Entwicklung bleiben.

Geschrieben von Stefan Weinbeisser