Viel ist in den letzten Monaten geschrieben worden über Corona und die Kunst. Die meisten dieser Artikel ziert eine (Graffiti-)Figur mit Maske; zuletzt erschienen sind mehrere Fotobände mit Aufnahmen einer „leeren“ Stadt, massenweise poppen im Internet und auf diversen Fotoplattformen Bilder von maskierten Statuen und Menschen, die Kunstwerke nachstellen, auf. Das mag nett zum Anschauen sein – und auch wenn so mancher „Guerilla-Kunstaktion“ Sprengkraft innewohnt – braucht es auch in der Kunst verstärkt Konzepte, um der Krise nachhaltig entgegentreten zu können. Vom Wiedererstarken des Nationalismus über Klimawandel und globale Protestbewegungen bis zum kontinuierlich größer werdenden Spalt zwischen arm und reich – all das sind die Begleiterscheinungen, die uns Corona wie durch den Blick durch ein Vergrößerungsglas täglich vor Augen hält. All das war freilich schon vor der Pandemie da – all das wird danach (wann immer das sein mag) noch da sein.
„Unsere Gegenwart ist eine Zeit der Extreme. Wir taumeln zwischen Optimismus und Pessimismus, schlagen uns mit Ängsten und Hoffnungen herum. Die Spannung zwischen intensiven Extrempositionen ist aufreibend und zugleich faszinierend, hier suchen wir nach dem richtigen Maß, der Synthese dieser Polaritäten und geraten dabei über die Grenzen unserer Komfortzone“, beschreibt die in Wien lebende Künstlerin Anemona Crisan unseren aktuellen (Seins-)Zustand.
„Fears & Hopes“ lautet dementsprechend passend der Titel ihrer ersten Online-Ausstellung. 28 Bilder aus den vergangenen zehn Jahren ihres Schaffens hat Crisan in ihrem Atelier zur virtuellen Ausstellung zusammengestellt. Die Besucher können sich „frei bewegen“ und durch Anklicken der Bilder an der Wand diese näher betrachten und Hintergrundinformationen abrufen. In der letzten Ausstellungswoche soll der Showroom (so es die Beschränkungen zulassen) auch leiblich zugänglich sein. Das Atelier wird dann erneut zur Galerie umgestaltet, die Kunstwerke können einem neuen Blickwinkel unterzogen sowie mit der Künstlerin das eine oder andere interessante Gespräch zu den (bereits liebgewonnen) Arbeiten geführt werden. Eine Gelegenheit, die man sich nicht entgehen lassen sollte – sind es doch die großen Fragen, mit denen sich die 1980 in Rumänien geborene Künstlerin beschäftigt.
Zwischen Extremen
Wer bin ich? Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Seit Jahren setzt sich Crisan in ihren zwischen Figürlichkeit und abstrakter Linienführung changierenden Arbeiten mit dem Menschen auseinander. Das Leben erscheint ihr als „ein ständiges Verhandeln zwischen dem, was ich und was das Außen will. Gerade in Verbindung mit der aktuellen Debatte um die Grundrechte passt dieses Thema extrem gut in unsere Zeit.“ Am Kunstmarkt und im Ausstellungsbetrieb hantelt man sich seit Monaten von Lockdown zu Lockdown – für Crisan ein Grund gerade jetzt den Schritt zu wagen und neue Formate zu erproben. Wirft man einen Blick auf die für die Ausstellung ausgewählten (und auch käuflich zu erwerbenden) Arbeiten, so fällt auf, dass die von Crisan angesprochenen Pole (das Außen und das Innen beziehungsweise die Gesellschaft und das Individuum) ein Spannungsfeld bilden, in dessen Grenzen wir nicht starr verharren, sondern uns mehr oder minder (gewissen Gesetzen unterworfen) frei bewegen beziehungsweise „von einem Extrem zum anderen wechseln. Es geht in meinen Arbeiten immer darum eine Balance zu finden“, so Crisan.
Ein Gleichgewicht, das die Künstlerin im laufenden Arbeitsprozess erzeugt. Das Kunstschaffen dient ihr als Erkenntnisprozess. Das Ergebnis: die Arbeiten wirken wie ein von unglaublicher Energie beseelter Ruhezustand. Hinter der harmonisch anmutenden Komposition bleibt das Wechselspiel der unterschiedlichen (Gegen-)Positionen stets spürbar.
In ihrer Arbeit „Wirbel“ zeigt Crisan den Betrachtern den Ausschnitt eines Kopfes, der von einem Netz aus Linien eingehüllt wird. Inwieweit die Figur von diesem Wirbel eingeengt oder durch ihn ein Prozess der Befreiung erzeugt wird, bleibt dahingestellt.
„Das wesentliche Prinzip in meinen Arbeiten ist der Dualismus. Angst, Hoffnung und Mut werden zum Motor einer Bewegung. Die Frage ist, wann kommt der Punkt, wo ich sage, jetzt gehe ich und handle?“ Dehnt man diese in „Wirbel“ aufgeworfenen Motive in ein kollektives Umfeld aus, so muss man sich letztendlich auch damit auseinandersetzen „in welcher Gesellschaft wollen wir leben; wollen wir Autoritäten unterworfen sein oder wollen wir selbstermächtigt leben?“ Eine Diskussion, die unserer Tage, wo bei vielen der Wunsch nach einem Neustart groß scheint, gar nicht oft genug geführt werden kann.
In Schwebe
Wie ein Phoenix aus der Asche werben schon jetzt manche mit ihrer Post-Corona-Strategie. Als Synonym für den Neuanfang breitet auch ein Phoenix ehrfurchtgebietend seine Flügel im (realen und virtuellen) Showroom über uns aus. Rot leuchtend heben sich diese vom dunkel gestalteten Hintergrund ab, mit dem er dennoch verbunden scheint. Bei Crisan gleicht sein Flug jedoch mehr einem Balanceakt, denn einem sich zielsicheren (aus der Asche) Erheben. Seiner Vergangenheit, so scheint es, kann man nicht so leicht entkommen.
„Wir sind auch das, was vorher war und danach sein wird“, sagt Crisan – die als Tochter zweier Künstler schon früh mit der Kunst in Berührung kam – mit Blick auf die „Genealogie“. Zu sehen sind schemenhaften Umrisse mehrerer Köpfe, die je weiter sie ins Innere des Bildes rücken kleiner werden und den Betrachtern etwas Höhlenartiges vermitteln. „Keim“ und „Evolution“ heißen zwei weitere Arbeiten, die ebenfalls 2019 entstandenen sind. Während das eine Bild den Umriss eines Schädels, der in einem anderen Schädel steckt, zeigt, erinnert das andere an einen DNA-Strang – eine aus Drei- und Rechtecken bestehende Konstruktion, die einem sich aus- oder einziehenden Fühler gleicht.
Hier wie dort stößt man bei der Betrachtung von Crisans Arbeiten auf geometrische Formen. Es ist nicht zuletzt auch ein wissenschaftlicher Blick auf die Dinge. „Platonische Körper sind auch im Bauplan des Menschen enthalten. Letztendlich bestehen wir aus den gleichen Atomen wie Flüsse oder Berge“, erklärt Crisan in Anbetracht zwei während des ersten Lockdowns entstandenen Landschaftsbildern. Unter www.anemonacrisan.com/fearsandhopes können diese betrachtet werden. Weitere Ausstellungen sollen folgen. „Angedacht sind auch Ausstellungen mit anderen KünstlerInnen und eine Form des Salon-Gesprächs.“ Den Anfang machte ein virtuelles Ostereierspiel, bei dem es einen Print zu gewinnen gab. „Es darf in der Kunst eben ruhig auch mal witzig zugehen“, schmunzelt Crisan.
Zur Person
Anemona Crisan lebt und arbeitet als freischaffende Künstlerin in Wien. Bekannt wurde sie vor allem durch ihre großformatigen ortsspezifischen, raumgreifenden Kunstinstallationen sowie durch ihre metaphysischen Gemälde und Zeichnungen auf Leinwand und Papier. 1980 als Tochter zweier Künstler in Bukarest geboren, wuchs sie ab 1991 in Österreich auf, wo sie 2002-2011 an der Akademie der bildenden Künste Wien (Gunter Damisch) studierte. 2007 erlangte sie zudem ihren Abschluss in Kunstgeschichte an der Universität Wien
Titelbild: Wirbel (Tusche auf Leinwand) 2013
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