Mit dem Fund der Venus von Willendorf – deren Gestein laut neuesten Forschungen vermutlich aus Norditalien stammt – erblickte im Jahr 1908 eine kleine, circa 11 cm große Frauenfigur im niederösterreichischen Willendorf (erneut) das Licht der Welt. Die Figur löste in Folge nicht nur in wissenschaftlichen Kreisen Begeisterung aus, barg die Entdeckung doch vor allem für die zweite Welle der Frauenbewegung neue Möglichkeiten. Geschichte wurde (und wird) bekanntlich selten aus der Perspektive von Frauen erzählt. Die im allgemeinen Sprachgebrauch als Venus-Figur (benannt von einem französischen Forscher nach der Entdeckung einer Figur mit entblößter Scham in Frankreich) bezeichnete Statuette bot (und bietet) Anlass Geschichte(n) aus einer neuen Perspektive von Weiblichkeit zu erzählen. In den Rollenzuschreibungen des 19. Jahrhunderts, in denen sich unter anderem das bis heute hartnäckig haltende Bild des Mannes als Jäger festigte, stellte man sich beispielsweise auch Künstler als männlich vor. Tatsächlich dürfte die paläolithische Gesellschaft jedoch weitaus egalitärer gewesen sein als angenommen. Wie war die Rolle der Frau Paläolithikum? Welche Bedeutung haben Funde wie die Venus von Willendorf „für die Moderne und die Gegenwart und ihre identitätsstiftende Funktion in ihrem historischen Nachleben?“ Dies sind nur einige der Fragestellungen, die im Rahmen des im Jahr 2019 gestarteten „The Dissident Goddesses‘ Network“ in Zusammenarbeit zwischen Künstlerinnen und Forscherinnen diskutiert werden.

Ins Leben gerufen wurde das Forschungsprojekt, dessen Aufgabestellung darin besteht, einen feministischen Blick auf die weltweit einzigartigen Venusfunde in Niederösterreich zu werfen, von der Akademie der bildenden Künste Wien in Kooperation mit der Privatstiftung Forum Morgen. Ziel ist nicht zuletzt auch „eine Stärkung der Präsenz dieses Erbes in der Öffentlichkeit wie die Stärkung der Frauen der Region in ihrem Selbstverständnis und ihrem Selbstbewusstsein“, wie es dazu auf der Homepage zum Projekt heißt.

Archiviert im Löss

Neben der zwischen 29.000 und 30.000 Jahre alten Venus von Willendorf sorgte in den 1988 noch ein weiterer Fund für Aufmerksamkeit; jener der Fanny von Gelgenberg. Die rund 7,2 cm große Statuette wird auf ein Alter von 36.000 Jahren datiert und zählt damit neben der Venus von Hohe Fels auf der Schwäbischen Alb zu den ältesten bekannten menschlichen beziehungsweise weiblichen Darstellungen. Gemein ist den beiden in Niederösterreich gefundenen Statuetten, dass sie im Gegensatz zu den französischen Figuren, die man allesamt in Höhlen entdeckte, im Löss – das heißt Feinmaterial, der vom Wind herangeweht und abgelagert wurde – gefunden wurden. Wegen seines Gehalts an Kalium-, Natrium und Aluminiumfeldspaten gilt Löss zudem als sehr fruchtbar, was ihn beispielsweise in Niederösterreich nicht zuletzt für den Weinbau geeignet macht. Eine Ausstellung im Naturhistorischen Museum (NHM) warf im Jahr 2020 einen Blick auf die Zusammenhänge von Löss und den Frauenstatuetten-Funden. Der im Rahmen des Göttinnen-Projektes zur Ausstellung im NHM entstandene Katalog ist derzeit, gemeinsam mit seinen drei Vorgängern – von der Venus von Willendorf über Fanny vom Galgenberg bis hin zum Idol von Falkenstein – zur freien Entnahme in der Ausstellung „Die Erde lesen“ in der Landesgalerie Niederösterreich in Krems erhältlich.

In einer Forschungslounge können die Besucher*innen noch bis Anfang Mai den Stand der Forschungsergebnisse des Göttinnen-Projektes nachlesen. Eine von der Künstlerin Elisabeth von Samsonow für die Ausstellung gestaltete Installation informiert zudem über das so genannte „Land der Göttinnen“ – ein vier Hektar großes Grundstück, das von einem Kollektiv von Kunstschaffenden, darunter von Samsonow selbst, „erforscht, belebt und bewirtschaftet“ wird. Der im niederösterreichischen Alberndorf im Pulkautal gelegene Landstrich wurde von den Künstlerinnen aus eigenen Mitteln angekauft und ist ebenso wie die darauf befindliche Jurte für die Öffentlichkeit frei zugänglich. In der für die Ausstellung in Krems geschaffenen Installation sind unter anderen Bodenproben, Portraits von Mikroorganismen, Lössbilder und Skulpturen sowie Videos von vergangenen Performances zu sehen. So flimmert unter anderem die Aufzeichnung eines auf dem Gebiet stattgefundenen „Land art-Theaters“, das die Beziehung zwischen der Göttin Holle (oder Holly) und ihrem Baum im Land um Hollabrunn thematisiert, über den Bildschirm.

Besuch mit Vorwissen

Auch wenn sich die Installation und die anderen in der Ausstellung vertretenen Kunstwerke ohne Einführung beziehnungsweise begleitenden Katalog für die Besucher*innen schwer erschließen lassen, so wecken sie doch möglicherweise Neugier mehr über das Land in Erfahrung zu bringen. Nicht uninteressant ist sicher auch der von Samsonow vorgebrachte Aspekt, dass in Niederösterreich nach wie vor die Primogenitur vorherrsche, das heißt, dass das Land fast ausschließlich in Männerhand sei.

Mit dem Zusammenhang zwischen Menschen und Land beschäftigt sich auch die Forscherin, Künstlerin Angela Melitopoulos. Den Fokus legt die Mitbegründerin des Göttinnen-Landes dabei auf einen feministischen und indigenen Blickwinkel. Dieser richtet sich nicht zuletzt „gegen die globale, patriarchalische Geschichtlichkeit inmitten einer ökologischen und sozialen Katastrophe“, wie es im Text zur Ausstellung heißt. Ebenfalls in der Schau zu sehen sind sie Zeichnungen der Künstlerin Ida-Marie Corells: ein aus rund 170 Blättern bestehendes skizzenhaftes Tagebuch des Projekts.

Und wer bereits im Haus ist: nicht missen sollte man auf jeden Fall die Ausstellung „Isolde Maria Joham. Eine Visionärin neu entdeckt“, die derzeit ebenfalls in der Landesgalerie zu sehen ist und die sich der in Hainfeld (NÖ) lebenden leidenschaftlichen Malerin und Pionierin der Glaskunst widmet.

THE DISSIDENT GODDESSES ́ NETWORK
Akademie der bildenden Künste
www.tdgn.at

Die Erde lesen
Noch bis 1. Mai 2022 Landesgalerie Niederösterreich Museumsplatz 1
3500 Krems an der Donau
www.lgnoe.at

Geschrieben von Sandra Schäfer