Schier unübersehbare Ausgaben schmücken ihre Namen, wissenschaftliche Publikationen, Filme und sogar eine Fernsehserie (die es immerhin auf stolze sechs Staffeln brachte): Die Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm sind eine Marke. Eine Marke, die viele von uns ein Leben lang begleitet. Mit den Kinder- und Hausmärchen (erstmals erschienen 1812) haben sie einen fixen Platz in sämtlichen Wohnungen rund um den Globus erobert. Wer kennt nicht die Abenteuer von Schneewittchen, Dornröschen oder Rumpelstilzchen (letzteres ein Märchen, dessen Wurzeln heute bis 4.000 Jahre zurück verfolgt werden können). Und obwohl Geschichten wie diese bereits seit Jahrhunderten bekannt waren, bevor sie in Tinte und auf Papier fixiert wurden, zählt es zu den Leistungen des Brüderpaars, sie nicht nur systematisch gesammelt, sondern auch erforscht und in Form und Ausdruck überarbeitet für die Nachwelt hinterlassen zu haben.

Das Leben der Geschwister selbst – die bis zu ihrem Tod zusammen wohnten und (durchaus auch zu unterschiedlichen Interessensgebieten) forschten, bildet für viele abseits fantastischer Adaptionen amerikanischer Actionproduktionen, hingegen weitgehend unbekanntes Terrain. Studentinnen und -studenten der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften wissen zumeist – wenn auch nur sehr beschränkt – um ihre Leistungen in punkto deutscher Grammatik und Etymologie. Doch was ist mit den Lebensumständen, ihren politische Ansichten oder gar der finanziellen Lage der „Märchenonkeln“? Besteht daran überhaupt Interesse?

Von A bis Z

Betrachtet man die Besucherzahlen der Mitte 2015 in Kassel eröffneten Grimmwelt – durchaus. Obwohl man den mittlerweile mehrfach preisgekrönten Museumsbau vom Namen her anfänglich mit einer Art Vergnügungspark verwechseln könnte, handelt es sich bei dem treppenförmig in eine denkmalgeschützte Parkanlage eingefügten Gebäude doch um eine ernstzunehmende museale Einrichtung. Auf 1.600 Quadratmetern Ausstellungsfläche wird nicht nur das UNESCO-Weltdokumentenerbe der Original Handexemplare der Kinder- und Hausmärchen verwahrt, sondern werden auch diverse Sonderausstellungen konzipiert, Veranstaltungen und Workshops durchgeführt sowie geführte Rundgänge organisiert. Diese richten sich offenkundig an eine breite Zielgruppe. Etwas, das sich auch am modernen Ausstellungskonzept, das zwischen Wissensvermittlung und sinnlicher Erfahrung angesiedelt ist, widerspiegelt.

Als Besucher wandelt man in von A bis Z aufgeteilten Sektionen ebenso zwischen historischen Ausstellungsstücken – darunter der Zettelkatalog der Wörter der Sprachforscher sowie einige Stücke aus dem Hausrat – wie kindergerechten Stationen und künstlerischen Installationen umher. Mittendrin findet sich auch ein Werk von namhaften Künstlern wie Ai Weiwei, der dem Museum im Gedenken an die weitverzweigte Grundlagenforschung der Brüder mehrere Holzwurzeln aus seiner chinesischen Heimat vermachte. Ebenfalls zu sehen sind die wunderschönen Scherenschnittbilder von Alexej Tchernyi, der diese als eine Reihe von erzählenden Dioramen zur Geschichte des deutschen Wörterbuchs anfertigte. Das große letzte Projekt im Leben der Brüder.

Die Geschwister konnten es, obwohl sie andere Dinge fortan hinten anstellten, nicht mehr zu Ende führen. „Hätte ich diese schwierige Lage vorausgesehen, ich würde damals mit Händen und Füßen das Wörterbuch abgewehrt haben“, schrieb Jacob Grimm in einem Brief an Karl Lachmann.

Das niemals endende Wörterbuch und noch mehr Grimms

Tatsächlich kam der Vorschlag des Leipziger Verlegers Reimer, ein großes deutsches Wörterbuch zu schaffen, den Brüder damals allerdings sehr gelegen. So hatten Sie gerade aufgrund ihrer Proteste gegen die Aufhebung der hannoverschen Verfassung durch König Ernst August ihre Stelle an der Universität Göttingen verloren. Doch das Projekt, das nicht nur den Bestand der deutschen Wörter erfasste, sondern auch deren geschichtliche Entwicklung mit der Auflistung diverser literischer Belege veranschaulichte, wuchs sich zum nicht enden wollendem Unternehmen aus. Während Wilhelm kurz vor seinem Tod den Buchstaben D abschloss, verstarb sein Bruder vier Jahre später (1863) nach der Bearbeitung des Wortes Furcht.

In Erinnerung geblieben sind sie der Nachwelt trotz dieses Mammut-Projektes (der letzte Band erschien 1961) sowie allerlei Schriften zur Sprachwissenschaft (Jacob Grimm gilt immerhin u.a. als Begründer der germanischen Sprach- und Altertumswissenschaft sowie der deutschen Philologie) und zur Sagenwelt Deutschlands, trotz allem in erster Linie aufgrund ihrer Kinder- und Hausmärchen mit deren Sammlung sie ursprünglich im Auftrag von Clemens Brentano und Achim von Arnim begannen. Von kommerziellem Erfolg gekrönt war das Projekt allerdings erst als die Märchen in gekürzter Form und mit Zeichnungen ihres Bruders Emil auf den Markt gebracht wurde. Die comicartigen Zeichnungen, die Emil Grimm zum Alltagsleben der Brüder fertigte, zählen im Übrigen zu den interessantesten Ausstellungsstücken, die das Museum zu bieten hat. Nicht zu vernachlässigen ist auch die Rezeptsammlung von Schwester Dorothea, die bis zu ihrer Hochzeit mit dem späteren kurhessischen Minister Ludwig Hassenpflug ebenfalls im Haushalt der Grimms lebte. Beliebt zu jener Zeit: Brotkruste auf Schweinekeule, eine in Gelee gekochte Gans, gepflückter Hecht oder Karpfen in Gelee – offenbar speisten die Brüder Zeit ihres Lebens gut und gerne.

Wer auf den Geschmack gekommen ist, dem bietet das Restaurant „Falada“ in der Grimmwelt zwar nicht unbedingt Authentisches, aber doch qualitativ Hochwertiges – eine Gelegenheit, die man sich in der Feinschmecker-Wüste Kassel auf keinen Fall entgehen lassen sollte.

Grimmwelt Kassel
Weinbergstraße 21
34117 Kassel
Öffnungszeiten: Di-Do, Sa und So 10.00 bis 18.00 Uhr, Fr 10.00 bis 20.00 Uhr
Eintritt: 8 Euro/ermäßigt 6 Euro
www.grimmwelt.de

Geschrieben von Sandra Schäfer