Noch bis November harren die frisch renovierten Kasematten in Wiener Neustadt im Zuge der Niederösterreichischen Landesausstellung neugieriger Besucherinnen und Besucher. Ab 2020 wird Regisseurin und Autorin Anna Maria Krassnigg mit der „wortwiege“ die ehemalige Festungsanlage zum „Zentrum für Theater, europäische Literatur und Diskurs“ ausbauen. Das Projekt ist an der Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft angesiedelt und will sich in den nächsten Jahren den europäischen Mythen widmen.

Was für Mythen das sind und wieso sich die Wiener Neustädter Kasematten besonders dafür eignen, erfuhr die Kulturfüchsin im Interview. Ein Gespräch mit Anna Maria Krassnigg über die Faszination Theater, alte und neue Tyrannen und warum man aus der Geschichte lernen sollte.

Von 2007 bis 2017 hast du den Salon 5 in Wien geleitet. Von 2015 bis 2018 bespieltet ihr den Thalhof in Reichenau. Was waren die Gründe nach Wiener Neustadt weiterzuziehen?

Das war tatsächlich eine eigenartige Entscheidung, weil man etwas, das in voller Fahrt ist und noch dazu weiter Fahrt aufnimmt ungern bremst. Es war allerdings so, dass das Thalhof Festival zu unserer Überraschung sehr schnell gewachsen ist. Gleichzeitig waren die Eigentümer beunruhigt, weil die Sommersaison immer weiter mit unserem Festival zugewuchert ist und der ursprüngliche Plan das Festival mit Vermietungen in einer Oase der Ruhe zu verbinden nicht optimal durchführbar war. Parallel zu dieser Entwicklung hat es sich ergeben, dass mich ein Jahr bevor wir die Entscheidung gefällt haben den Thalhof aufzugeben, der Bürgermeister von Wiener Neustadt, Klaus Schneeberger, darauf aufmerksam gemacht hat, dass meine Lieblingsangewohnheit Naturräume zu bespielen, in Wiener Neustadt nach der Landesausstellung möglich sein wird, da es bald mehrere prachtvolle Räume gibt, die einer Nachnutzung harren. Erwartungsgemäß habe ich mich in die Kasematten verliebt. Durch diese Parallele, dass wir es dort mit endlichen Ressourcen zu tun hatten und auf der anderen Seite gehen große und interessante Ressourcen auf, ist die Entscheidung gefallen.

Mit den Kasematten steht nicht nur ein architektonisch ungewöhnlicher Spielort zur Verfügung, sondern auch ein historisch vorbelasteter. Wie wirken sich Struktur und Geschichte auf die Gestaltung des Spielplans aus? Das Thema des ersten Zyklus lautet „Bloody Crown“. Wieso?

Wie alle Naturräume haben auch die Kasematten eine spezielle Atmosphäre, man könnte sagen eine Forderung. Man kann mit solchen Räumen nur arbeiten, wenn man auf diese Forderung hört. Das beginnt mit einem Lauschprozess, ein Hinhören, ein Hinfühlen, um zu begreifen wie man programmieren kann. Aus diesem Prozess heraus hat es sich ergeben, etwas zu machen, dass sowohl der Archaik dieser Räume entspricht und zugleich auf eine sehr allgemein gültige Weise mit der Geschichte Wiener Neustadts verbunden ist. Die Stadt ist mit dem Lösegeld Richard Löwenherz’ errichtet worden. Das Gebäude selbst stammt von einem italienischen Baumeister und entspricht einem italienischen Festungsbau aus der Zeit der Frührenaissance. Wenn man über die Zeit der Renaissance nachdenkt ist man natürlich schnell in der Antike. Und so kamen wir schließlich zum Thema der Königsdramen. Ein Thema, das mit König Ödipus oder der Orestie – die Mutter aller Königsdramen – stark in der Antike aber auch in der Renaissance mit Shakespeare und Marlowe verwurzelt ist. In Wahrheit gibt es solche Geschichten aber fast in jedem Land: dieses Narrativ der Familie, die noch dazu eine ist, die diese Bloody Crown – bloody übrigens im Sinne der Doppeldeutigkeit im Englischen von blutig und was übersetzt so viel wie verflixt bedeutet – trägt. Diese Geschichten sind zudem beim Publikum wahnsinnig beliebt. Wenn man heute den Fernseher aufdreht und sich die großen anglo-amerikanischen Serien anschaut wie beispielsweise Game of Thrones oder House of Cards, Westworld oder Peaky Blinders dann hat man es letztlich fast immer mit Königsdramen zu tun. Egal, ob die Story jetzt mit einer Mafiafamilie, einer Gang oder einer Wirtschaftsfamilie daherkommt.

Könige oder besser deren Nachfahren erscheinen mittlerweile eher in der Klatschpresse – in den seltensten Fällen auf dem politischen Parkett. Warum faszinieren uns Royals und Adelige auch noch heute so, selbst wenn sie auf ihre Rolle von Kunstmäzenen, Society-Löwen, Stilikonen usw. beschränkt sind und woran liegt es, dass die Menschen sich trotz allem nach wie vor nach einem starken Mann, einem Führer, sehnen? Man hat fast den Eindruck als sei die Demokratie für viele so etwas wie fader grauer alter Anzug geworden.

Es stimmt, dieses Neuerstarken nationalistischer Tendenzen, der Wettkampf der Länder, der Nationen, das waren und sind alles Gründe warum uns dieses Thema so interessiert. Die Krise der Demokratie beziehungsweise das verblüffende Erscheinen der neuen Tyrannen – egal ob man jetzt Orban, Erdogan oder kleinere Prinzlein anderer Orte hernimmt – ist etwas, dass doch sehr überraschend und gleichzeitig erschreckend ist. Denn nicht nur, dass diesen neuen Tyrannen, zum größten Teil widerspruchlos gegen jede bessere Information, die man heute ja hat, nachgelaufen wird, sondern auch, dass die sich tatsächlich trauen wie Tyrannen zu agieren: korrupt, die Verteilung von Familie beziehungsweise Clans in eigenen Strukturen – das ist alles sehr durchschaubar, sehr primitiv letztendlich und erinnert stark an die Tyrannenbeschreibungen wie sie bei Shakespeare und in der Renaissance vorkommen. Auch wenn ich mir einen Trump anschaue – man darf das natürlich nicht verkürzen, aber das Muster ist durchaus erkennbar – wie er mit seiner Familie, mit seinen Töchtern, Schwiegertöchtern, Frauen im Umfeld generell umgeht, das hat wahnsinnig viel von der Lear-Story. Es geht mir jetzt nicht darum, zum 15. Mal jemanden mit einer Trump-Perücke auf die Bühne zu schicken, da traue ich dem Publikum mehr zu, aber zu begreifen, diese Geschichten haben wir eigentlich schon erzählt. Wir könnten uns darüber amüsieren, aber auch informieren wie sie ausgehen oder wie sie funktionieren – diese Tricks, die sich gar nicht so sehr von jenen von damals unterscheiden.

Sehen Sie abgesehen vom Wettstreit der Länder und dem Erscheinen der neuen Tyrannen auch eine Verbindung im Zeitgefühl der Renaissance und Heute?

Ich kann natürlich nur Vermutungen anstellen, aber ich glaube, zum einen leben wir ähnlich wie zur Bauzeit der Kasematten in einer gewaltigen Zeit des Umbruchs. Damals haben gerade die ersten Wehen der Aufklärung und der Moderne eingesetzt. Es hat natürlich noch 300 Jahre gedauert, aber dieses Gefühl, wie es bei Hamlet heißt, dass „die Zeit aus den Fugen ist“, das lässt niemanden kalt. Auch vom Übergang des Mittelalters zur Renaissance hatte man das Gefühl die Ressourcen seien endlich, wir werden alle zu viel – so lächerlich uns das heute vorkommen mag. Es gibt natürlich riesige Unterschiede, aber dieses Zeitgefühl des Katastrophischen, das Suchen nach schnellen Lösungen ist sich sehr ähnlich. Nur, dass komplexe Probleme nicht simpel zu lösen sind. Die Leute haben heute immer weniger Zeit und fliegen deshalb den simplen Lösungen zu, die idealerweise von einer Figur, die ein Politikerdarsteller ist, vermarktet wird. „Obviously nobody can learn from history“ aber vielleicht sollte man es doch versuchen.

Bloody Crown ist der erste Zyklus, der sich in den kommenden Jahren mit europäischen Mythen beschäftigen will. Der Untertitel des Zyklus lautet „Europa in Szene“. Inwieweit versteht sich die „wortwiege“ in den Kasematten als europäisches Projekt? Und wieso dieser Fokus auf europäische Mythen?

Es gibt diesen Ausspruch von Robert Schuman, einem der Gründerväter der EU, der kurz vor seinem Tod gesagt hat, wenn ich nochmals beginnen müsste, würde ich mit der Kultur anfangen. Warum? Ganz einfach, weil so etwas wie ein gemeinschaftliches Konstrukt, das aufgrund der nationalstaatlichen Entwicklung so schwierig ist wie es bei uns ist,

tatsächlich nachweislich am ehesten durch Erzählung also durch ein Narrativ, das uns bindet, zusammengehalten wird. An solchen Geschichten sind wir reich. Selbst jemand, der nie in einem Theater war, hat schon von Othello oder Romeo und Julia gehört. Und auch wenn er den Titel nicht kennt, wenn er eine viertel Stunde in der Geschichte ist, kennt er die Story. Das erscheint mir in diesen Zeiten, die sehr spaltend sind, wo bewusst auch permanent gespalten wird, etwas auf eine sehr sinnliche Weise Verbindendes zu sein. Hinzu kommt, dass unser Team sehr international ist, sowohl das Spielteam als auch das Wissenschaftsteam. Wir haben Leute aus Rom, England, Kroatien, Bulgarien. Davon verspreche ich mir sehr viel. Es sind sofort andere Perspektiven in dem Moment wo man das nicht nur von Österreich national betrachtet, sondern sagt, wir sind eine Drehscheibe. Ich hoffe, dass diese internationale Ausrichtung in den nächsten Jahren noch stärker wird. Was gut aussieht, weil Wolfgang Müller-Funk, der Leiter der Wissenschaftsschiene, und ich seit Jahren ein Mittelmeerprojekt am Laufen haben, das, mit der wortwiege zusammenfallen könnte. Aber so oder so, die

Bloody Crown bleibt uns in den nächsten drei Jahren auf jeden Fall erhalten, weil wir prinzipiell im Drei-Jahres-Zyklus programmieren, was ein großer Vorteil gegenüber dem Stadt- und Staatstheater ist.

Bereits im Salon 5 war das Programm eine Mischung aus Theater, Film, Musik und Bildtableaus. In den Kasematten werden auf die Künstlerinnen und Künstler auch ExpertInnen aus Literatur und Wissenschaft treffen. Inwieweit war Theater immer schon eine Mischung unterschiedlicher Genres und sollte ernstzunehmendes Theater generell über seine Ränder wabern?

Theater war immer schon interkreativ, intertextuell und zum Teil auch international. Alle diese Forderungen der Moderne oder stärker noch der Postmoderne sind im Grunde rhetorische Forderungen, weil wenn man je begriffen hat, was Theater war, woher es kommt, nämlich aus dem Ritus, dem Opfer und letztendlich der Überwindung des Opfers, ist völlig klar, dass es diese interkulturellen Komponenten seit jeher gab. Das, was wir in den letzten 200 Jahren in unseren Sprachraum unter Theater verstehen, ist ein bürgerliches, das in einer bestimmten Struktur enorme Erfolge zu verzeichnen hat, die aber dennoch nur einen Ausschnitt von dem was Theater ist, abbilden kann. Auch wenn es mehr oder minder modernere Varianten des Stadt- oder Staatstheaters gibt. Letztendlich funktioniert dieses Theater mit einer Art Guckkastenbühne und einem bestimmten Verwaltungsrahmen, in denen ich viele Dinge, die mir persönlich am Herzen liegen, so nicht ausführen könnte. Man kann an einem Staatstheater, auch wenn man die größten Budgets für Bühnenbild hat, einen Raum wie die Kasematten nicht bauen. Und selbst wenn man es könnte, hätte es nicht dieselbe Wirkung wie dieser Naturraum. Nun wissen wir, dass in der Antike und gerade auch bei Shakespeare Räume extra für die Notwendigkeit einer Form von Drama gebaut wurden beziehungsweise man in Steinbrüche, in Arenen hinein gegangen ist. Dann gibt es natürlich schlicht und ergreifend bestimmte Arbeitsverfahren, die sich nicht in ein Schema, wie es das Staatstheater hat, pressen lassen, weil ich dort ja sonst kein Repertoire anbieten kann. Da braucht es andere Projektstrukturen. Ich würde es allerdings auch langweilig finden, wenn es nur diese Projektstrukturen gäbe. Da es sie aber kaum gibt finde ich es aufregend mit ihnen zu arbeiten.

Auch wenn es langsam besser zu werden scheint, gerade an den großen Häusern ist das Geschlechterverhältnis in vielen Bereichen nicht ausgewogen, Seit Jahren ist von einem Backlash die Rede. Wie wichtig ist es explizit auch auf feministische Schwerpunkte zu verweisen, Künstlerinnen zu fördern, Texte beispielsweise querlesen usw.

Man kann nicht als Künstlerin arbeiten und überleben in diesen Beruf ohne sich diesbezüglich Fragen zu stellen. Natürlich haben Frauen teilweise andere Geschichten zu erzählen, sie haben andere Erfahrungen, auch mit anderen Arten von Strukturen, sie erfahren anderen Response, andere Gerechtigkeit und Ungerechtigkeiten. Was mich sehr berührt hat, ist, dass am Thalhof die Wiederentdeckung mit Hilfe der Bühne von Marie von Ebner-Eschenbach so gut funktioniert hat. In der Schule sind wir alle mit Krambambuli gequält worden, dem Klischee einer bürgerlichen Matrone, hinter dem die Autorin ein Schattendasein gefristet hat. Obwohl schon diese wunderbare Eschenbach-Ausgabe und die Biografie von Daniela Strigl dieses Klischee bekämpft haben, war es für mich noch einmal etwas Besonders zu sehen, was passiert, wenn man diese Stoffe auf eine Bühne hebt – dieses ganze Bürgertum der beginnenden Jahrhundertwende – und die Leute mit einer völlig neuen Sicht auf Ebner-Eschenbach konfrontiert. Das ist etwas, was Theater sehr gut kann, möglicherweise besser als viele andere Formen: Fragen öffentlich zu machen. In diesem Sinne ist auch die Bloody Crown zu verstehen. Welche Stücke in der ersten Ausgabe dabei sind, darüber möchte ich vor der Veröffentlichung im Herbst noch nichts sagen, aber was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass es in beiden Hauptinszenierungen sehr starke Frauenfiguren geben wird.

Anna Maria Krassnigg kann als Regisseurin und Autorin 
auf zahlreiche Inszenierungen und Textfassungen unter anderen für 
Staatstheater Braunschweig, Grand Théâtre Luxemburg, Schauspielhaus Wien, 
Theater in der Josefstadt, Wiener Festwochen zurückblicken. 
Sie entwickelte zahlreiche interkreative Veranstaltungen 
im Bereich der darstellenden Künste und unterrichtet als Universitätsprofessorin 
für Regie am Max Reinhardt Seminar Wien. 
Im Laufe ihrer Karriere leitete sie den Salon5, das Thalhof Festival 
und aktuell die wortwiege in den Kasematten 
in Wiener Neustadt.

BLOODY CROWN – Europa in Szene
5. März bis 19. April 2020
Pre-Opening: 7./8. Dezember 2019
Kasematten Wiener Neustadt
www.wortwiege.at

Noch bis 10. November 2019 können die Kasematten im Zuge der Landesausstellung Niederösterreich besucht werden
Führungen: täglich 10.30, 14.00, 16.00 Uhr
Dauer: ca. 75 Minuten
https://www.noe-landesausstellung.at/de

© Titelbild: Christian Mair (wortwiege)

Geschrieben von Sandra Schäfer