Ein Schwan, der auf eine Gruppe von Eisläufern trifft, eine Stewardess inmitten von schwebenden Flugzeug-Luftballons, ein Pferd von Pflanzen umgeben und eine etwas andere Modeschau. Drei Situationen, die eines gemeinsam haben: es sind Momente aus dem Leben gegriffen, die auf Bild gebannt wurden. Robert Rutöd ist Straßenfotograf, auf Englisch etwas hipper Street Photographer, seit mehreren Jahren vielbeschäftigter Reisender und Chronist des menschlichen Alltagslebens.

Die Kulturfüchsin traf den Fotografen in Wien zum Café. Ein Interview über den passenden Moment ein Foto zu schießen, den zweiten Blick und die Faszination, die eine Messe ausüben kann.

Lieber Robert Rutöd, wir sitzen jetzt im Kaffeehaus. Wenn wir auf der Straße wären, wo würde ich dich mit der Kamera am ehesten antreffen können? Gibt es bevorzugte Orte, an denen du fotografierst?

So etwas wie Lieblingsorte, wo ich mir erwarten darf, dass ich dort das gute Foto mache, habe ich nicht. Ein gutes Foto kann einem überall passieren. Womit ich mir allerdings schwer tue, sind Orte, die zu aufgeräumt sind. Das heißt Städte, in denen überhaupt keine Patina zu finden ist, wo alles herausgemascherlt ist. Etwas, das mich beispielsweise auch immer wieder anzieht sind arbeitende Menschen. Manchmal passiert es, dass du ein fertiges Sujet siehst und weißt, das ist ein gutes Foto. Bei anderen Situationen musst du einfach vor Ort bleiben und warten. Da bin ich ganz entspannt. Ich kann eine halbe Stunde oder Stunde wo herumstehen. Mir gefällt es, wenn man mit der Zeit immer mehr Details sieht. Unlängst habe ich beim Parlament beobachtet wie ein Mann in einem Graben, eingehüllt in eine Rauchwolke, Rohrleitungen verschweißt hat – solche Situationen ziehen mich sofort an.

Wenn du Menschen fotografierst – bittest du um Erlaubnis? Und gibt es Momente, wo du sagst, das wäre ein schönes Foto aber die Kamera dann doch weggehalten hast, weil die Situation zu privat, zu extrem, zu was auch immer war?

Meine Kamera ist immer sichtbar. Ich fotografiere nie heimlich. Ich würde das nicht wollen, dass die Menschen, die ich fotografiere, das Gefühl haben, ich habe irgendwelche bösen Absichten. In den meisten Fällen funktioniert das ganz wunderbar. Viele Leute sind davon angetan, wenn man sich für sie interessiert. Wenn jemand absolut nicht fotografiert werden will, dann zeigt er das auch an, indem er zum Beispiel die Hand vorhält. Extremen Situationen begegnet man im öffentlichen Raum eher selten. Bei einem Unfall zum Beispiel würde ich das Fotografieren einfach bleiben lassen.
Ich hege diesbezüglich keinerlei Paparazzi-Instinkte. Zudem würde ich gar nicht wissen, was ich mit diesem Foto machen soll. So etwas wie es zum Beispiel Bruce Gilden macht, dass er die Leute regelrecht anspringt mit seinem Blitz, so etwas habe ich noch nie probiert. Ich glaube nicht, dass das meins ist.

Die Street Photography ist heute ein weites Feld. In der aktuellen Ausstellung im Kunsthaus Wien werden auch digitale Nachbearbeitungen, wie zum Beispiel das Spiel mit der Überlagerung von Bildinhalten – wie man es bei Peter Funch sehen kann – als Street Photography beworben. Was ist für dich Street Photography? Wo sind die Grenzen?

Was Peter Funch macht, dass er mit einem Stativ mehrere Fotos von einer Situation fotografiert und dann zusammenmontiert, das würde ich nicht mehr unter den Begriff Street Photography einreihen. Dann gibt es noch diesen deutschen Fotografen, Andreas Gursky, der viele Einzelbilder meist zu einem sehr großformatigen Bild zusammen montiert. Das ist zwar so wie die Bilder von Funch auch äußerst beeindruckend, aber für mich ist das eine Montage um die Wirkung zu erhöhen. Die Street Photography ist ein Begriff, der schon sehr lange existiert. Einer der ersten klassischen Vertreter war Henri Cartier-Bresson. Vereinfacht kann man es so beschreiben: Street Photography ist die nicht inszenierte Fotografie bei der die Leute keinerlei Posen einnehmen. Allerdings sind die Grenzen oft fließend. Gerade das Posieren ist etwas, was einem immer wieder begegnet, dass die Leute sobald sie merken, sie werden fotografiert, eine Position einnehmen, von der sie glauben, das das besonders vorteilhaft für sie oder für das Foto ist. Das sollte natürlich auch nicht sein. Ich finde aber auch nicht, dass das was ich mache sich als klassische Street Photography bezeichnen lässt. Gerade in den letzten Jahren habe ich mich für mein Projekt „Fair(y) Tales“ verstärkt auf Messen herumgetrieben.

Wie bist du auf die Idee gekommen, ein Projekt mit Bildern von Messen zu machen?

Ich habe früher schon auf Messen fotografiert. Diese zwei bis drei Besuche waren so ergiebig, dass ich auf die Idee gekommen bin ein längerfristiges Projekt daraus zu machen. Dieses Projekt ist jetzt abgeschlossen. Ich habe zehn Jahre lang alle Messen besucht, die für mich in Österreich und den Nachbarländern erreichbar waren.
Man sieht dann dort wirklich Sachen, die man nicht für möglich hält. Es gibt heute für jedes Thema eine Messe. Früher als ich ein Bub war, gab es zwei Messen in Wien. Eine Frühjahrs- und eine Herbstmesse. Das waren so Allerweltmessen, wo es noch ein Messeprogramm gab. Der ORF hat früher tagsüber nicht gesendet. Die Ausnahme war eine Woche im Frühjahr und eine Woche im Herbst. Der Sinn der Sache war, dass die Besucherinnen und Besucher der Messe in den neuesten Fernsehmodellen auch etwas anderes zum Ansehen haben als das Testbild.

Gibt es eigentlich in jeder Stadt ein besonderes Flair, Motive, die man – abgesehen von den diversen Sehenswürdigkeiten natürlich – sonst nirgends finden kann? Was macht Wien und seinen BewohnerInnen für dich interessant?

Ein gutes Foto kann man überall machen. Sei es in einer Kirche in St. Johann in Tirol zu Ostern oder irgendwo am Berg, wo plötzlich ein Radfahrer inmitten der Menschenmenge, die alle mit der Gondel raufgekommen sind, steht, und freudig sein Fahrrad hochreißt, weil er dort offensichtlich hinaufgefahren ist. Es passiert auch, wenn ich im Waldviertel bin. Das sind allerdings keine Fotos die ich öffentlich mache. Das sind hauptsächlich Verwandte, die ich fotografiere oder auf alten Bauernhöfen. Das finde ich hochinteressant für Fotografie, weil es so viele Gegensätze gibt. Ich mag improvisierte Sachen. Improvisiert ist dafür vielleicht tatsächlich ein ganz gutes Wort. Wenn du zum Beispiel nach Istanbul kommst, wo an allen Ecken und Enden improvisiert wird, so etwas hat viel Potenzial für eine gute Fotografie. Wenn die Leute anfangen behelfsmäßig irgendetwas mit irgendetwas zu ersetzten.

Was macht für dich ein gutes Foto aus?

Auf Street-Fotografien sieht man immer wieder konkurrierende Elemente – da gibt es einen roten Hut und woanders ist noch ein weiteres rotes Element zu sehen. So etwas lässt sich leicht kopieren. Extreme Schatten, extremes Licht, das sieht man heute auch sehr häufig. In Schatten getauchte Bilder, wo irgendetwas im hellen Licht herausragt. Das ist mittlerweile klassisch geworden, aber damit kann ich überhaupt nichts anfangen. Für mich muss ein gutes Foto einfach lesbar sein. Wie eine kurze Skizze, wo jemand etwas verdeutlichen möchte. Das hat dann auch etwas Grafisches. Ein Kreis, ein paar Linien. Es gibt diese Aussage von einem deutschen Fotografen, der gesagt hat, wenn ich ein Foto mache von einer Person, die bei einer Bushaltestelle wartet, muss auf dem Foto mehr oben sein, als eine Person, die bei einer Bushaltestelle wartet. Das heißt, ein Foto sollte die Möglichkeit haben als Metapher zu dienen oder als Parabel für irgendetwas herhalten können.

Etwas, das einen erst auf den zweiten Blick auffällt – sozusagen eine zweite Ebene?

So könnte man es auch ausdrücken. Wenn wir uns dieses Foto hier zum Beispiel anschauen – das wäre für mich ein Bild, das das ganz gut illustriert. Auf dem Bild siehst du einen Schwan im Vordergrund und im Hintergrund die Eisläufer. Sieht man nur den Schwan im Vordergrund würde man das wahrscheinlich nicht als Eis, sondern als Wasser interpretieren, weil das das üblichere Bild von einem Schwan ist, der auf einem Wasser schwimmt. Und dann gibt es hier als Kontrast dazu die Eisläufer.

Es gibt ja von, ich glaube es war Bresson, den Spruch, ein gutes Foto ist ein Bild, das man länger als eine Sekunde anschaut. Würdest du dem zustimmen?

Ich würde sagen, ein gutes Bild ist ein Bild, wenn es einen nicht loslässt, wenn es einen wieder beschäftigt. Das tun diese Bilder, die häufig der Street Fotografie zugerechnet werden oftmals nicht. Jemand hat einen roten Hut auf und daneben steht eine rote Blumenvase. So etwas erschöpft sich in der Sekunde. Das ist kein Foto, das man länger als fünf Sekunden betrachtet. Im Idealfall sollte ein Rätsel zurückbleiben. Das bedeutet aber auch, dass man das Foto nicht auf eine rationale Ebene herunterbrechen sollte. Man wird als Fotograf oft gefragt, wo ist dieses oder jenes Bild entstanden, wie ist es zur Aufnahme gekommen? Natürlich haben diese Fotos alle eine Geschichte. Aber es wäre kontraproduktiv würde man diese Geschichte dahinter verraten. Ich finde nicht, dass man alles zerreden sollte.

Würdest du mir beipflichten, dass Humor ein wesentliches Element in deinen Arbeiten ist?

Ich würde sagen, dass das Leben ohne Humor nicht zum Aushalten wäre. Humor ist ein wesentlicher Bestandteil des Lebens und deshalb auch ein Bestandteil meiner Fotos. Ich habe früher Filme gemacht und da war Humor auch wichtig. Das ist etwas, was die Filme von Haneke auszeichnet, die haben null Humor obwohl sie hervorragend sind. Für mich ist so etwas schwer erträglich.

Apropos Inszenieren: hast du schon einmal jemanden gebeten eine Stellung wieder einzunehmen, weil du einen Moment verpasst hast? Hast du Bilder im Kopf, die du nie gemacht hast?

Im Kopf nicht, aber es ist mir natürlich häufig passiert, dass ich zu spät gekommen bin. Meine Fotografie ist auch eine Geschichte der nicht entstandenen Bilder oder besser nicht festgehaltenen Bilder – entstanden sind sie ja, weil ich sie gesehen habe. Wenn ich fotografiere suche ich nichts Bestimmtes. Erst wenn ich etwas sehe weiß ich, dass das Potenzial hat. Natürlich sieht man immer wieder Situationen, die das Zeug zu einem guten Foto gehabt hätten, aber es ist einem nicht geglückt die Situation festzuhalten. Jemanden bitten, etwas noch einmal zu machen, käme für mich nicht infrage. Das wäre für mich zu mühsam. Würde ich jemanden auf der Straße fragen, würde sich dieser wahrscheinlich denken, wie komme ich dazu, das für einen wildfremden Menschen nachzustellen. Das muss man dann einfach abhaken. Das gehört in die Kategorie nicht festgehaltener Bilder.

Aber der Betrachter, die Betracherin, würde den Unterschied vermutlich nicht merken. Das heißt, es geht dabei eigentlich eher um dich und den Akt des Fotografierens?

Genau! Es ist mir generell persönlich zu mühsam in irgendeiner Form zu inszenieren. Ich habe das früher in Filmen gemacht. Da wird jedes Detail berücksichtigt. In der Fotografie reizt mich das nicht. Es gibt diesen Amerikaner Gregory Crewdson, der in seinem Drang nach Perfektion alles inszeniert. Der lässt ganze Straßenzüge absperren, um jedes Detail an seine richtige Stelle zu bringen. Die Feuerwehr fährt auf, versprüht Regen – da kostet ein Foto-Shooting Millionen! Für mich stellt sich diesbezüglich die Frage, wo fange ich an, wo höre ich auf: Wenn ich jetzt zum Beispiel anfange zu sagen, könnten Sie statt dieser Jean eine karierte Hose anziehen, das würde besser zum Bild passen, setzen sie bitte noch einen Hut auf, nein der Asphalt gefällt mir nicht, gehen wir woanders hin – das wäre für mich wenig zielführend. Ich fühle mich wohl dabei, dass ich nichts inszenieren muss, nichts beisteuern muss, dass die Szene so aussieht wie sie auf einem guten Foto auch aussehen müsste.

In Österreichisch hat die Street Photography meiner Meinung nach nicht so einen hohen Stellenwert wie anderswo. Würdest du dem beipflichten?

Es gab vor ein paar Jahren von Toni Woldrich, damals Toni Tramezzini, den sehr löblichen Versuch mit der Galerie eigensinnig einen Ausstellungsraum für genau dieses Genre zu etablieren. Auch mit internationalen Fotografen als Gäste. Aber das hat hier offensichtlich nicht funktioniert Scheinbar mangelt es an Publikum. Ich habe durchaus den Eindruck, dass in Ländern wie Holland, Polen oder Tschechien generell ein größeres Interesse an der Fotografie herrscht. Bei uns ist es so, dass es nicht einmal ein Fotomuseum gibt, auch weil vermutlich einige Leute ihre Stellung nicht aufgeben wollen. In Wien gibt es das Westlicht, die Albertina und das Kunsthaus. Galerien, die sich der Fotografie widmen fehlen.

Auf der anderen Seite herrscht eine regelrechte Bilderflut im Internet. Alleine auf Instagram sind Unmengen von Bildern mit dem # streetphotography versehen. Wie kann es einem ob dieser Fülle gelingen ein Publikum zu generieren? Wie hast du es geschafft, mit deinen Bildern auch international in Galerien und auf Ausstellungen vertreten zu sein?

Ich weiß nicht wie es andere machen. Ich habe es durch unaufhörliche Tätigkeit erreicht. Man muss immer Kontakte knüpfen, ständig seine Fotos an Kuratoren schicken, an Ausschreibungen teilnehmen. Also ununterbrochen versuchen seine Fotos zu bewerben. Das ist ein extrem mühsamer Prozess – oft auch ein frustrierendes Unterfangen, weil es zumeist überhaupt kein Feedback gibt. Wenn du zehn Prozent Trefferquote hast bei diesen Versuchen ist es gut geschätzt. Du kannst deine Bilder an diverse Blogs und Fotozeitschriften im Internet schicken. Bei der gedruckten Presse bekommst du ohne direkte Kontakte so gut wie nie Feedback. Das ist ein Glückstreffer. Ich habe in jungen Jahren Schwarz-Weiß-Fotografien gemacht, dann habe ich lange nicht fotografiert. Seit zehn Jahren bemühe ich mich um eine Öffentlichkeit für meine Fotos. Das funktioniert mittlerweile ganz gut. Man hört zwar immer von Zufällen wo jemand bei Instagram oder bei Youtube entdeckt wird. Aber das halte ich für Ausnahmen und ich glaube auch nicht, dass das eine langfristige Wirkung hat.

Zur Person:
Robert Rutöd, geboren 1959, lebt und arbeitet in Wien. 
Seine Arbeiten sind regelmäßig weltweit auf zahlreichen Festivals
und Ausstellungen zu sehen. 
Er erhielt unter anderen den New York Photo Award, 
den Artist of the Year beim Dong Gang International Photo Festival
in Südkorea, den Special Prize des „Czech Center of Photography“.
Zwischen 1979 und 1993 schrieb Robert Rutöd Drehbücher 
und führte bei Kurzfilmen Regie. 
Ende November ist er mit Bildern aus seiner Serie Fair(y) Tales 
beim Festival "Photo Is:Rael" in Tel Aviv zu Gast. 

Publikationen:
„Less Is More“ (2009), „Milky Way“ (2014), „Right Time Right Place“ (2015)
www.rutoed.at

Die Ausstellung „Street.Life.Photography“ mit Bildern von beispielsweise Peter Funch, Bruce Gilden u.v.m. ist noch bis 16. Februar im Kunsthaus Wien zu sehen.
www.kunsthauswien.com

Geschrieben von Sandra Schäfer