Rund 290 km Luftlinie liegen zwischen dem ehemaligen KZ Auschwitz und Wien. Mit dem Auto ist man in etwas weniger als sechs Stunden vor Ort. Und doch finden gerade einmal knapp viereinhalbtausend Österreicherinnen und Österreicher jährlich ihren Weg in das ehemalige Konzentrations- und Vernichtungslager der Nationalsozialisten. Auschwitz ist in den Köpfen vieler Österreicher zwar präsent, bildet aber gleichzeitig eine große Leerstelle. Eine Leerstelle wie sie knapp 35 Jahre ebenso in der Länderpräsentation der Republik Österreich existierte. Seit 1978 informiert die Österreich-Präsentation im Block 17 des heutigen „Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau“ über österreichische Opfergeschichte – von den Tätern bzw. der Mit-Täterschaft vieler Österreicher und Österreicherinnen am Massenmord fehlte jedoch jegliche dokumentarische Spur. Ein Umstand, der sich mit der Eröffnung der neuen Präsentation, voraussichtlich Ende 2018, ändern soll.

Seit 2014 arbeitet ein fünfköpfiges wissenschaftlich-kuratorisches Team im Auftrag des „Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus“ an der Gestaltung einer zeitgemäßen Ausstellung. Neben dem Fokus auf die Täter und Täterinnen im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau reichen die Themenbereiche von u.a. der Zwangsghettoisierung über Deportation und Ermordung bis hin zur besonderen Berücksichtigung der Mittäterschaft von Teilen der österreichischen Bevölkerung an diesem Massenmord. Vermittelt werden sollen sie durch ein modernes minimalistisches und multimediales Ausstellungskonzepts .

Die Kulturfüchsin traf Mag. Birgit Johler, wissenschaftlich-kuratorische Mitarbeiterin, zum Gespräch. Ein Interview über unterschiedliche Ebenen der Vermittlung, neue wissenschaftliche Erkenntnisse und die einseitige Aufarbeitung der Geschichte der vorangegangenen, ersten Präsentation.

In den 2000er Jahren ist verstärkt Kritik an der österreichischen Länderpräsentation aufgekommenen. Welche Beschwerden wurden vorgebracht?
Die Kritik bezog sich vor allem auf die im Eingangsbereich vermittelte Botschaft Österreich als erstes Opfer. Die ersten Nationen, die Länderausstellungen gestalteten, waren hauptsächlich jene, die von den Nazis besetzt bzw. überfallen wurden wie Polen, Ungarn, Italien usw. Auch Österreich wurde damals nicht als Täterland, sondern unter dem Aspekt des ersten Opfers eingeladen. Die Präsentation ist unter wesentlicher Beteiligung von Auschwitz-Überlebenden entstanden. Viele der Mitwirkenden waren politische Häftlinge, Spanienkämpfer, die sich als erste Opfer des Nationalsozialismus verstanden haben. Erst gegen Ende der 80er, im Laufe der 90er-Jahre kam es zu einem Perspektivenwechsel. Besucher haben den Opferstatus Österreichs hinterfragt, indem sie auf der Ausstellungsgrafik Fragezeichen angebracht oder E-Mails geschickt haben. Daraufhin wurde bis zum Abbau der Ausstellung ein Banner montiert, der diese Darstellung kontextualisieren sollte.

Die von Ihnen neu gestaltete Ausstellung soll den Titel „Entfernung. Österreich und Auschwitz“ tragen. Von welcher Entfernung sprechen wir hier?
Das Wort Entfernung deutet zum einen die räumliche Entfernung zwischen „Österreich und Auschwitz“ an. Eine Entfernung, die noch heute dazu führt, dass viele Österreicher glauben, aufgrund der Nähe von Mauthausen nicht in die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau fahren zu müssen. Entfernung hat aber auch die Bedeutung, dass hier Menschen entfernt worden sind, aus der Mitte der Gesellschaft unter den Augen der österreichischen Bevölkerung. Entfernen heißt im Deutschen nicht nur jemanden wegschaffen, sondern auch ermorden. Unser Gedanke war, die Geschichte von Österreich und Auschwitz wieder zusammenzuführen, sie zu ent-fernen.

Mit welchem Konzept wollen Sie die Orte in der Ausstellung einander näher bringen?
Es wird zwei Ebenen geben. Eine Ebene werden die Original-Objekte oder Faksimile in den Vitrinen darstellen, die die Geschichte der Österreicher und Österreicherinnen im KZ Auschwitz erzählen. Die zweite Ebene verhandelt die Geschichte des Nationalsozialismus in Österreich mit Hilfe einer Filmprojektion. Die Objekte auf dieser virtuellen Ebene sind nicht greifbar. Die Geschehnisse in Österreich rückten in dem Moment in die Ferne, als die Verfolgten in das Lager eingeliefert wurden und ein neues „Leben“ begann. Familie, Freunde, Gegenstände etc. waren unerreichbar. Teil des Ausstellungskonzepts ist auch ein so genanntes „White Board“. Dort können Besucher mit dem Finger Nachrichten hinterlassen. Das Besondere daran ist, dass diese Nachrichten relativ rasch verschwinden. Die Gedanken sind für Österreich bestimmt. Sie werden als Botschaft an einen bestimmten Ort, der sich noch in Diskussion befindet, übertragen. Es wird ein zwischengeschaltetes Team geben, das prüfen wird, dass keine beleidigenden oder strafrechtlich relevanten Meldungen dabei sind. Das White Board ist eine Art Gedanken-Vermittler zwischen Österreich und der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau.

Gibt es Objekte, die Sie für besonders aussagekräftig halten oder die Sie in speziellem Maße bewegt haben?
Es gibt kaum materielle Spuren aus dem KZ Auschwitz. Alle persönlichen Dinge wurden an der Rampe geraubt. Eines der Ausstellungsstücke, das eine Frau wundersamerweise behalten durfte, ist eine kleine Buddha-Statue, die ihr ihr Mann beim Abschied geschenkt hatte. So etwas ist ein wertvolles Erinnerungsstück, an dem man sich in schweren Situationen „festhalten“ kann. Ein anderes Objekt ist eine Halskette einer Frau, die den Todesmarsch mitgemacht hat. Sie hat aus verschiedenen Lagern kleine Gegenstände sammeln können. Aus ihrer Zeit im Lager Auschwitz-Birkenau hat sie von einem Mithäftling eine Metallplakette als Zeichen der Freundschaft geschenkt bekommen. Wir wissen nicht, was mit dieser Person geschehen ist, aber sie hat diese Plakette verwahrt und sie unmittelbar nach Kriegsende, gemeinsam mit den Erinnerungsstücken aus anderen Lagern, zu einer Kette verarbeitet.

Welche Themenbereiche haben sich neben diesem Fokus auf Erinnerungsstücke und Identität noch herauskristallisiert?
Es wird in der Ausstellung insgesamt vier große Themenbereiche geben. Innerhalb dieser existieren Unterkapitel wie beispielsweise „Deportation von Jüdinnen und Juden“ oder „Internierung und Deportation der Roma und Sinti“. Generell versuchen wir eine Ausstellung zu schaffen, die sehr reduziert ist. Wir wollen mit wenigen aussagekräftigen Objekten eine konkrete Geschichte erzählen. Im Kapitel „Helfen und Schützen“ zeigen wir zum Beispiel Gestapo-Fotos aus Wien von einer Gruppe von Widerstandskämpfern und -kämpferinnen, die Juden und Jüdinnen zur Flucht verholfen haben und in Folge nach Auschwitz deportiert wurden. Zum Thema Deportation ist auf der Leinwand eine so genannte Hausliste zu sehen. Das waren Listen, die von Hausmeistern über jene Bewohner und Bwohnerinnen geführt wurden, die gezwungen worden waren, in Sammelwohnungen zu leben. Darin ist sehr eindrücklich der Fortgang der Zwangsghettoisierung und Deportation zu erkennen. Oft sind Namen durchgestrichen und daneben wurde Auschwitz oder Theresienstadt vermerkt. Ein anderes Objekt, das wir ebenfalls auf der virtuellen Ebene zeigen, ist ein Meldeschein eines Überlebenden, der am 7. Mai 1945 in Wien als letzte Wohnadresse „Auschwitz“ angibt. Viele dieser Objekte machen deutlich, dass die beiden Orte Österreich und Auschwitz nicht losgelöst voneinander betrachtet werden können.

Haben Sie Elemente aus der vorangegangenen Präsentation eingeplant?
Ein wichtiges Element, der alten Ausstellung, das wir bewahren wollen, ist ein Kunstwerk von dem Auschwitz-Überlebenden, Heinrich Sußmann. Das sind Glasfenster, die er für die erste Präsentation gefertigt hat und die den vielen namenlosen Opfern des Massenmordes gedenken.

Inwieweit konnten im Zuge der Ausstellungsvorbereitungen neue wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden?
Mit dem „TäterInnen-Projekt“ unserer Kollegin Christiane Rotländer wird erstmals konsequent erhoben, wie viele Österreicher und Österreicherinnen vor Ort Teil des KZ-Personals waren. Wichtig ist uns auch, genauere Zahlen von Opfern aus Österreich zu ermitteln. Zudem wird es am Ende der Ausstellung einen Recherchebereich mit einer aktuellen Datenbank, die mit Hilfe des DÖW und des Kulturvereins der Roma und Sinti erstellt wird, geben.

Gelegentlich findet man in den Medien eine Meldung zum Tod eines der letzten Zeitzeugen. Wie gehen Sie mit dem Wegsterben dieser Zeugen und der damit einhergehenden erschwerten Fassbarkeit historischer Ereignisse um?
Uns ist bewusst, dass die Zeit drängt. Wir haben uns von Anfang an bemüht, mit Überlebenden in Kontakt zu treten. Teilweise haben sie dem Projekt Objekte zur Verfügung gestellt und es wird Selbstzeugnisse und Interviews geben, die auf einer Homepage zur Ausstellung abrufbar sein sollen. Die Homepage ist ein Spiegelbild der Ausstellung mit Vertiefungen. Eine Vorgabe des Museums Auschwitz-Birkenau ist, dass die Länderausstellungen mit Kriegsende, mit Auflösung des Lagers, enden müssen. Die weitere Geschichte Österreichs nach 1945 können wir nicht in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau erzählen und das verstehen wir, weil das ein spezieller Ort ist. Die Homepage erlaubt uns etwa bestimmte Biografien zu vertiefen und auch beispielsweise Aspekte zur NS-Nachkriegsjustiz einzubringen. Zudem wird es in einen Bereich Materialien für Lehrerinnen und Lehrer geben, die wir gerade mit dem Verein Gedenkdienst, erinnern.at und anderen erstellen.

Die Konzeption und Umsetzung der Ausstellung muss in Abstimmung mit dem Museum Auschwitz-Birkenau sowie dem Internationalen Auschwitz-Komitee erfolgen. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit?
Wir haben hauptsächlich mit den Kolleginnen und Kollegen im Museum zu tun. Wir bringen spezifisches Wissen über die Geschichte in Österreich mit, welches dort nicht bekannt ist und umgekehrt wissen die Kollegen zu bestimmten Objekten mehr als wir. Es herrscht eine konstruktive Zusammenarbeit. Es gibt bestimmte Vorgaben des Museums, die für uns bindend sind. So wollten wir zum Beispiel etwas über die Geschichte des Blocks 17 erzählen. Das war aber nicht erwünscht. Der Block wurde Österreich damals, in den 1970ern, als Ausstellungsbereich zugeteilt und hat mit der Geschichte des Landes nichts zu tun. Da sehen die Mitarbeiter des Museums ihre Zuständigkeit. Das internationale Auschwitz-Komitee ist eine dem Museum übergeordnete Institution. Dieses gibt letztendlich die Ausstellung frei.

Sie arbeiten seit 2014 an dem Projekt. Haben Sie spezielle Methoden entwickelt um angesichts der Schwere der Thematik nicht vollkommen an der Menschheit zu verzweifeln?
Als Wissenschaftler und Wissenschaftlerin lernt man sich immer ein Stück weit zu distanzieren. Bei diesem Thema ist das natürlich besonders schwer. Es gibt Quellen, die sind heftig, etwa die so genannten Testimonials, die unmittelbar nach Kriegsende aufgeschrieben wurden, wo die Überlebenden die Qualen beschreiben, die sie durchmachen mussten. Das sind Zeugnisse, die einen in mehrerlei Hinsicht fordern. Wir alle haben schon über den Nationalsozialismus und seine Folgen gearbeitet. Trotzdem ist die intensive Beschäftigung mit Auschwitz-Birkenau für alle eine neue Dimension in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Hier empfinden wir das Sprechen darüber in der Gruppe als sehr wichtig.

Warum ist es auch oder gerade im Jahr 2017 wichtig, dass Österreich sich dieses Projektes der Neugestaltung annimmt?
Es ist wichtig, Geschichte am historischen Ort zu erfahren. Aus meiner Sicht sollte jeder Österreicher, jede Österreicherin einmal in der Gedenkstätte gewesen sein. Das Lager Auschwitz-Birkenau ist Teil unserer Geschichte und Geschichte wirkt nach. Deshalb ist es absolut notwendig, dass diese Ausstellung die Perspektive richtig rückt und die Verantwortung Österreichs klarstellt. Österreich war Teil des Deutschen Reiches und große Teile der österreichischen Bevölkerung haben dieses System begrüßt und viele davon profitiert. Österreicher und Österreicherinnen trugen Mitverantwortung am Massenmord. Das wollen wir zeigen.

Ich wünsche der Ausstellung viele Besucherinnen und Besucher und danke Ihnen für das Gespräch.
Vielen Dank.

Zur Person:
Mag. Birgit Johler studierte Volkskunde, Europäischen Ethnologie und Romanistik 
an der Universität Wien. Seit 1998 ist sie freiberuflich als Ausstellungskuratorin 
und in selbständigen Forschungsprojekten tätig. Sie ist Lehrbeauftragte am Institut 
für Europäische Ethnologie der Universität Wien, zuletzt auch in Graz und Innsbruck. 
Seit 2014 ist sie Mitglied des kuratorischen und wissenschaftlichen Teams unter Leitung 
von Mag. Hannes Sulzenbacher zur Neugestaltung der österreichischen Ausstellung im 
Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau „Entfernung. Österreich und Auschwitz“

Weitere Informationen unter: www.nationalfonds.org

© Fotos: HBF/MINICH (Foto wissenschaftlich-kuratorisches Team: Alex Kubik; Eingang Block 17: Foto: Lanzrath/Nationalfonds, Skizzen: Architekt Martin Kohlbauer ZT)

Geschrieben von Sandra Schäfer