Es ist eine Geschichte wie sie nur das Leben schreiben kann. Hätte es ein Schriftsteller gewagt – einige haben sie fiktional ausgeschmückt – hätte man die Story vermutlich als zu sehr an den Haaren herbei gezogen empfunden und sie in die Schublade mit der Aufschrift „Gedankenexperiment“ oder „Science Fiction“ eingeordnet. Eine Mutter ermordet ihr Kind, nachdem sie dieses mit größtem Aufwand zum „Role Model“ einer starken, unabhängigen Frau herangezogen hat. Eine Frau, die nicht nur fähig ist in einer von Männern dominierten Welt für ihren eigenen Lebensunterhalt zu sorgen, sondern viele von ihnen an Intellekt und Tatentrang überflügelt. Eine „Mutter aller Mädchen“, ein Leitbild für alle Frauen, sollte Hildegard werden. Ihr Leben begann vielversprechend. Zumindest hinsichtlich der Bildung fehlte es dem Kind – das mit drei Jahren perfekt Maschinschreiben konnte, mit acht mehrere Sprachen fließend sprach und mit sechzehn ihr Jurastudium abschloss – an nichts. Wie es gewesen sein muss ohne Freunde ständig von der Mutter umgeben einen Lernmarathon absolvieren zu müssen, kann nur erahnt werden. Das Leben der real existierenden Hildegard Rodríguez war definitiv ein außergewöhnliches; es endete jedoch abrupt als Aurora Rodríguez es und damit ihr Projekt 1933 mit mehreren Schüssen beendete und sich danach der Polizei stellte.

An dieser Stelle beginnt die Erzählung des österreichischen Schriftstellers Erich Hackl, der das Leben der beiden spanischen Frauen in einen Roman kleidete. Hier beginnt auch der Film der österreichischen Künstlerin und Filmemacherin Barbara Caspar, die in weiten Bereichen dem Verlauf der Ereignisse in der Hackl-Erzählung folg. Ein logischer Weg: denn die Geschichte Hildegards kann nicht erzählt werden losgelöst vom Leben ihrer Mutter.

Auroras Projekt

Als Tochter aus wohlhabendem Haus soll Aurora Rodríguez das Leben einer bürgerlichen Frau des 19. Jahrhunderts im spanischen Galizien führen. Was nichts anderes bedeutet, als zu heiraten, Kinder zu bekommen und Dienstboten zu befehligen. Während Auroras Brüder eine umfassende Schulbildung erhalten, muss sich das wissbegierige Mädchen selbst um seine Ausbildung kümmern. Sie liest sich durch die reichhaltige Bibliothek des Vaters und interessiert sich für die Ideen des frühsozialistischen Gesellschaftskritikers und „Vaters“ des Feminismus Charles Fourier. Bald rebelliert sie gegen die Mutter und beschließt sich keinem Mann unterzuordnen. Sie will und wird niemals heiraten; für den Akt der Zeugung der zukünftigen Überfrau, siebt sie per Anzeige den vielversprechendsten Samenspender aus. Das Projekt scheint zu gelingen, das Wunderkind zieht durch ihre veröffentlichten Schriften die Aufmerksamkeit der (männlichen) Intelligenzia auf sich. Doch als Hildegard sich immer mehr von der Mutter zu entfernen beginnt, sieht Aurora ihr Projekt als gescheitert und zerstört, was sie einst erschuf.

Für Regisseurin Barbara Caspar steckt in dieser ungewöhnlichen Geschichte vor allem ein klassischer Mutter-Tochter-Konflikt. Die Frage: „Inwiefern sind Töchter geprägt von einem (verbissenen) Wohlwollen oder gar einer Rivalität mit Müttern, die ihr eigenes Potenzial auf Grund der äußeren Umstände nie ausschöpfen konnten?“, stand am Beginn der Arbeit. Zur Verdeutlichung ihres gewählten Fokus lässt Caspar regelmäßig Frauen im Alter von Hildegard und Aurora zur Zeit der Tat vor der Kamera über Mutter-Tochter-Beziehungen nachdenken. Die Bilder fungieren als reflexive Erweiterung – und gelegentlich auch als störender Einschnitt – der historischen Geschichte, die mithilfe der Charakterillustrationen des Zeichners Jörg Vogeltanz auf ansprechende Weise erzählt wird. Etwas in den Hintergrund geraten dabei die politischen Überzeugungen des Mutter-Tochter-Gespanns im sich damals stark wandelnden Spanien. Alles in allem ist „Hildegard oder Projekt: Superwoman“ aufgrund von Thematik und Umsetzung als Dokumentation mit animierten Passagen ein gleichsam ungewöhnlicher wie spannender Film, der aus dem über das Jahr laufenden Filmangebot definitiv heraussticht und keine Minute Langeweile aufkommen lässt.

Lou Salomé

Turbulent war auch das Leben einer anderen Frau, das derzeit ebenfalls in den Wiener Kinos zu sehen ist. Für ihren ersten Spielfilm wählte die deutsche Dokumentarfilmerin Cordula Kablitz-Post die 1861 in Russland geborene „femme fatale“ Lou Salomé. Kablitz-Post erzählt das Leben einer starken Frau, vor allem anhand ihrer Begegnungen mit berühmten Männern der Zeit. Paul Rée, Friedrich Nietzsche, Rainer Maria Rilke (und einige mehr, die im Film keine Berücksichtigung finden) – sie alle fanden Gefallen an der intelligenten, unabhängigen Frau, die im Film von drei verschiedenen Schauspielerinnen in verschiedenen Lebensphasen dargestellt wird. Auch wenn viele wichtige Themen aus Salomés Leben in 113 Minuten Laufzeit nicht angesprochen oder nur angedeutet werden, so macht der Film doch neugierig sich näher mit der historischen Persönlichkeit zu beschäftigen.

Vor allem angesichts der Tatsache, dass Frauen auf der Leinwand immer noch weniger Platz eingeräumt wird als Männern, zwei interessante, erfreuliche Filmprojekte, denen verstärkt Aufmerksamkeit zu wünschen wäre.

Hildegard oder Projekt: Superwoman. Ein Film von Barbara Caspar. Österreich 2016. 82 Minuten.
Kinostart: 23. September 2016

Lou Andreas Salomé. Ein Film von Cordula Kablitz-Post. Mit Katharina Lorenz, Nicole Heesters, Liv Lisa Fries, Katharina Schüttler, Alexander Scheer uvm. Deutschland / Österreich 2016. 113 Minuten.

 

Geschrieben von Sandra Schäfer