Ein idyllisches Häuschen im Grünen, einen liebenden Ehemann und eine entzückende Tochter: Das Leben schien es gut mit der estnischen Philosophiestudentin Erna zu meinen. Doch das Leben ist bekanntlich unfair und mit dem Einmarsch der sowjetischen Truppen im Baltikum bekommt die junge Frau dies mit aller Härte zu spüren. Sie wird einer von 40.000 Menschen, die in den 40er Jahren von der stalinistischen Herrschaft nach Sibirien verschleppt werden, um an der Bevölkerung ein Exempel zu statuieren.

Was für Erna und die anderen folgt, ist bodenloses Leid. Ein Leid, das bis heute nicht angemessen in der europäischen Öffentlichkeit aufgearbeitet worden ist. Tatsächlich ist „In the Crosswind“ (Originaltitel „Risttuules“) des jungen estnischen Regisseurs Martti Helde der erste Kinofilm, der sich dem Thema tausender in die Zwangsarbeit verschleppter und ermordeter Esten annimmt. Und das auf ästhetisch ungewöhnliche Weise. In monatelanger akribischer Kleinstarbeit arrangierte Helde eine Reihe von in schwarz/weiß gehaltenen Tableaux vivants. Die Schauspieler – bis zu 150 in einem Bild – stehen still während die Kamera um sie herum manövriert.

Leben in angehaltener Zeit

Die Idee, die Bilder derart erstarren zu lassen, kam dem Filmemacher als er die Briefe jener jungen Frau las, deren Schicksal die Zuseher im Film verfolgen. Auszüge aus ihnen werden von Laura Peterson, die Erna mimt, aus dem Off verlesen. Faszinierend: vor allem der Aspekt, dass es der verschleppten Frau trotz aller Entbehrungen gelang ihre Lage derart treffsicher in Worte zu kleiden. „I feel like time has stopped“ heißt es an einer Stelle. Als Gefangene der weiten sibirischen Landschaft bezeichnet sie sich ein andermal. In der Unbarmherzigkeit der Natur ist die aus ihrem Leben Gerissene gezwungen jahrelang Zwangsarbeit zu verrichten. Ihr Lohn: eine Scheibe Brot am Tag. In der Kälte ihrer Hütte schreibt sie zunächst an der Seite ihres kranken Kindes später alleine Briefe an den anderorts deportierten Ehemann. Sein Schicksaal sollte sie erst 47 Jahre später erfahren.

Das Paar steht stellvertretend für die vielen Menschen, die durch die Terrorherrschaft des Stalinismus ihr Leben verloren. Dass es sich bei dem Film nicht zuletzt auch um ein Stück offizielle Aufarbeitung handelt, ist an den Namen der an der Produktion beteiligten stattlichen Einrichtung zu erkennen. Jahrelang schweigt man in Estland über die Vorkommnisse. Bis zur Unabhängigkeit des Landes 1991 sind die Namen jener Opfer des sowjetischen Regimes nicht mehr als ein sanftes Flüstern hinter vorgehaltener Hand. Ein paar dieser Namen lässt Helde in Form von zu Wind gewordenen Tonaufnahmen in den Film über das Geräusch eines fahrenden Zuges hinein wehen. Dass sie auch in einem Wiener Kino erklingen konnten, ist einer Initiative des Stadtkinos in Kooperation mit andern internationalen europäischen Filmverleihern sowie einer Jury von 100 Freiwilligen zu verdanken. Diese wählten aus 10 europäischen Festivalfilmen einen aus regulär im Kino gezeigt zu werden. Mit „In the Crosswind“ haben sie salopp ausgedrückt eine gute Wahl getroffen. Die Zuseher erwartet ein wunderschönes Filmzuckerl, das allerdings ob der Thematik mit besonders bitterem Nachgeschmack aufwartet.

Risttuules. Ein Film von Martti Helde. Mit Laura Peterson und Tarmo Song. Produziert von Allfilm in Kooperation mit dem Estnischen Filminstitut, Estnischen Verteidigungsministerium, Estnischem Kulturministerium uvm. Estland 2014. 87 Minuten.

Kinostart: 15. Juli 2016 Stadtkino

@ Fotos: Stadtkino

Geschrieben von Sandra Schäfer