VR-Technologie ist langsam aber stetig auf dem Vormarsch. Animationsfilme, die uns via Bildschirm einen Einblick in vorige Jahrhunderte gewähren, Augmented Reality-Apps, die Gebäude vor unseren Augen wieder auferstehen lassen: was in den meisten modernen Museen mittlerweile – zumindest in Teilbereichen – Realität geworden ist, bahnt sich seinen Weg mittlerweile auch durch so manche Wiener Gasse. Und so schlängeln sich seit Ende August Einheimische wie Touristen gleichermaßen durch die Wiener Stadtlandschaft. In der Hand – und an ausgewählten Plätzen auf dem Kopf – eine VR-Brille, die es ihnen erlaubt mittels 360-Grad-Animationen in die Vergangenheit einzutauchen.
Mehr als Kulisse
Erdacht wurde die Tour, die die Elemente einer klassischen Stadtführung (mit Audioguide) und die Technologie der virtuellen Realität verbindet, von den ehemaligen Wirtschaftsstudenten Michael Böhm und Jakob Anyszka sowie dem Wiener Fremdenführer Rainer Warrings. In rund zwei Stunden begeben sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von der Kärntner Straße zum Stephansplatz, weiter über den Graben bis zur Hofburg über den Ring und wieder zurück. In regelmäßigen Abständen heißt es die Brille auf den Kopf zu setzten und los geht die virtuelle Reise an unterschiedliche markante Punkte der Stadtgeschichte – von der Osmanischen Belagerung über die Zeit der großen Pestepidemie bis hin zum Zweiten Weltkrieg. Die neugierigen Stadterkunder können sich im Kreis drehen und die kurzen Animationsfilme auf sich wirken lassen – sich frei bewegen im historischen Ambiente darf man jedoch nicht. Zu groß ist die Gefahr, dass man sich rempelt oder gar vom Gehsteig purzelt. Zudem würde dies keinen Sinn machen, weiß Warrings, denn anders als bei Augmented Reality (wo man immer noch Sicht auf die reale Umgebung hat) reagieren die Animationen nicht auf die Bewegungen der einzelnen Brillenträger.
Und auch Anyszka weiß: „Es gibt mittlerweile stark die Entwicklung, dass man von überall auf der Welt durch das Internet mittels einer VR-Brille an Führungen teilnehmen kann, aber da geht jemand mit einer Kamera durch die Stadt und nimmt Bilder auf. Unser Ziel war es von Anfang an, eine reale Führung mit den Möglichkeiten der VR-Technologie zu verbinden. Das Besondere bei uns ist, dass man, sobald man die Brille absetzt, wirklich vor Ort die Unterschiede, zwischen dem, wie es damals an dieser Stelle ausgesehen hat, und wie es heute aussieht, erkennen kann. Ein schönes Beispiel ist der Stephansplatz, wo früher auf der Westseite eine ganze Häuserzeile und die Maria Magdalena-Kapelle standen. Das ist wirklich ein besonderer Effekt, der sich einstellt. So etwas kann man zu Hause im Wohnzimmer oder im Museum nicht erzielen.“
Familientauglich
Damit der Besuch derart bedeutender, mit Geschichte reich gesegneten Plätze wie dem Stephansplatz auch in der Vergangenheit für die Besucherinnen und Besucher so authentisch wie möglich wird, hat das Team, wie es bekundet, sich im Vorfeld viel Zeit für die Recherche genommen. „Wir haben beispielsweise Historiker engagiert, die für uns in Museen und Archive gegangen sind. Wir haben mit alten Fotos und Plänen aus Büchern gearbeitet und vom Stephansdom natürlich die exakten Grundrisse genommen. Die Kostüme, die Häuser und die Geschichten, das ist alles so korrekt wie nur möglich“, versichert Anyszka.
Ziel war und ist es, den Leuten eine unterhaltsame Führung zu bieten, die auch für Familien geeignet ist. Dementsprechend gibt es trotz Krieg, Terror und Zerstörung so gut wie kein Blut oder andere grausame Splatter-Szenen zu sehen. „Wir wollten, dass die Leute involviert werden, aber andererseits stets Zuschauer bleiben. Beispielsweise bei der Zweiten-Weltkriegs-Szene am Schluss – da war es wichtig, dass man verstärkt die Zuschauerrolle übernimmt, damit man nicht zu sehr das Gefühl bekommt sich in einem Kriegsgebiet zu befinden. Das wäre für manche Personen vermutlich zu abschreckend. Man muss immer auch bedenken, was man den Leuten zumuten kann“, erklärt Warrings das Konzept.
Der Beflügelung der Phantasie tut der aktuelle Status bei den meisten vermutlich dennoch wenig Abbruch. Letztendlich werden die Besucherinnen und Besucher entscheiden, ob und wie sich die VR-Touren in die heimische Stadtlandschaft einfügen werden. Zur Zeit ist man jedenfalls mit VR-Brille am Stephansplatz stehend für viele Passanten selbst noch Attraktion.
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