Hier eine zerschmetterte antike Statue, dort die Überreste eines Tempels, weiter hinten die zerfallenen Mauern einer Kirche – was in der Malerei üblicherweise in den Hintergrund gerückt beziehungsweise eingesetzt wird, um den Betrachtern ein historisches Ereignis oder eine Weltanschauung zu vermitteln, wird in den „Bruchstücken“ von Andreas Tanzer und Jeremias Altmann prominent zur „Müllhalde“ der Geschichte arrangiert. Statt an Haushaltsmüll und Elektroschrott – wie in anderen Bildern und Plastiken des Künstlerduos – schweift der Blick im derzeit im Kunsthistorischen Museum (KHM) in der Antikensammlung ausgestellten Gemälde vorbei an Tausenden von Steinsplittern, irrt von Trümmerhaufen zu Trümmerhaufen und verfängt sich in halbdurchlässigen Monumenten, die mit dem Himmel eine Symbiose einzugehen scheinen. Und doch strahlt das Gemälde mit seinen in zahlreichen Nuancen von Gau gefertigten Ruinen eine seltsame Ruhe aus. Es mag der Ruhe nach dem Sturm gleichen, der vermeintlichen Stille nach der Apokalypse. Die Menschheit erscheint darin als nicht mehr als ein am Stein abprallendes Echo.

In Kollaboration

„Vom Anfang an ging es in der Serie grey time um Verlassenschaften, um vom Menschen Geschaffenes, aber nie war er selbst repräsentiert“, erläutert Jeremias Altmann die Arbeit am Projekt. Ein Projekt, an dem Altmann und Tanzer seit mittlerweile sechs Jahren in regelmäßigen Abständen gemeinsam werken. In der Abgeschiedenheit diverser zum Atelier umfunktionierter (Un)Orte treten die Künstler in Dialog. Ihre Arbeitsweise beschreiben die beiden, die immer zur gleichen Zeit an einem Werk arbeiten, im Idealfall als „eine ausgewogene Mischung aus Assistent und Kontrahent“. Das Übermalen der Arbeit des anderen sei jederzeit erlaubt, auch „wenn der eine gerade zwei Stunden an einem Bildausschnitt gearbeitet hat und der andere dann einen Eimer Farbe darüber lehrt“. Diese Art der „Eingriffe werden eher als „gehaltvolle Interventionen, denen die Bilder womöglich große Teile ihrer Kraft verdanken“, wahrgenommen, so Altmann.

Von Giorgione bis Tizian

Wie alle Werke, die die Künstler seit 2013 gemeinsam geschaffen haben, sind auch die „Bruchstücke“ im KHM im Kollaborationsmodus entstanden. Das Besondere: gezeigt werden sie an jenem Ort, an dem sie das erste Mal auf der Leinwand erschienen sind – im Museum. Was seinen Anfang mit der Anfrage nahm, für ein paar Stunden im Museum malen zu dürfen, hat sich zu einer mehrmonatigen Intervention in der Antikensammlung entwickelt. Zwischen römischen Statuen laden die (angesammelten) „Bruchstücke“ sowie eine ältere Plastik der jungen zeitgenössischen Künstler zum Reflektieren ein.

Für den Direktor der Antikensammlung, Dr. Georg Plattner, bildet Altmann und Tanzers Werk eine gelungene Anregung für die Besucherinnen und Besucher die im Haus ausgestellten Objekte auch von einer anderen Seite zu betrachten. Handelt es sich bei den abgebildeten Gegenständen um die Hintergründe bekannter Gemälde – darunter Tizians „Nymphe und Schäfer“ und Giorgiones „Die drei Philosophen“ – die von den beiden Künstler in den Fokus gerückt wurden.
Quasi als Türsteher lädt der Torso eines Kentauren, der in der Antikensammlung steht, dazu ein, sich mit den zahlreichen Zitaten und Paraphrasen aus der Kunstgeschichte, die im Bild abgebildet wurden, auseinanderzusetzen.

Die Kinder der grauen Zeit

Wie sehr jedoch auch ein Museum selbst ein Zitat aus der Zeit ist – beispielsweise in der es errichtet, konzipiert, renoviert wurde – erschließt sich einem spätestens beim Lesen des Katalogs. Die durchwegs wunderbar gelungenen Beiträge erzählen von der Geschichte der Kunstpräsentation, der Praxis Ruinen ins Bild zu setzten und lüften so manches „Geheimnis“ zur Serie „grey time“. Dabei erscheinen die beiden Künstler selbst als Kinder der „grauen Zeit“ – eine Generation, in deren Erdkundebüchern die Erde mit einem Fieberthermometer dargestellt wurde. Irgendwann gibt es auf diesem kranken Planeten keinen Platz mehr für die Zukunft. Die „grey time“: eine Ansammlung aus Gegenständen, Zitaten und Geschichten der Vergangenheit.

Wer neugierig geworden ist: von 4. bis 29. September warten Altmann und Tanzer mit weiteren Arbeiten der Serie im „Bildraum 01“ auf.

grey time – Bruchteile aus dem Museum
Noch bis 20. Oktober 2019
Antikensammlung. Hochparterre, Raum XI
Kunsthistorisches Museum Wien
Maria-Theresien-Platz, 1010 Wien
Öffnungszeiten Juni bis August: täglich 10 – 18 Uhr, Do bis 21 Uhr
www.khm.at

Ausstellungskatalog

grey time. Eine künstlerische Auseinandersetzung von Jeremias Altmann und Andreas Tanzer. Hrsg. Kunsthistorisches Museum Wien. 114 Seiten zahlr. Abb., gebunden. Euro: 14,95

Titelbild: Arbeits-Porträt Bruchteile no. 4. Barbara Herbst. 2018 © Foto: Barbara Herbst

 

Geschrieben von Sandra Schäfer