Schauerlich, humorvoll, von entzückender Einfachheit und doch hochkomplex. „Die Stunde der Geburt“ ist eine kurze Geschichte zu 41 Grafiken Alfred Kubins, die noch bis 4. September im Leopold Museum zu sehen sind. Zum Mitnachhausenehmen ist eine Publikation im Deuticke Verlag erschienen. Erzählt wird von einer Reise in eine seltsame Stadt und von einem Mann, der sich am Ende seines Lebens die Frage stellt, wer war ich. Gastauftritte haben der Tod, der Teufel, eine verflossene Geliebte sowie jede Menge schräg anmutende Dorfbewohner. Der ganz normale Wahnsinn à la Kubin, gewürzt mit den Worten Knapps. Oder doch umgekehrt?

Ein Interview mit dem Autor über ein Museum mit Wagemut, der Umarmung eines großen Geistes und über die Kunst sich die richtige Frage zu stellen.

Herr Knapp, haben Sie eigentlich in der Schule schon Texte zu Bildgeschichten verfasst?

Interessanterweise habe ich nie Geschichten zu fertigen Bildern gemacht. Dazu war ich zu kurz in der Schule. Aber irgendwann holt einen eben alles ein. So nach dem Motto, was man in der Schule nicht gelernt hat, holt man in einem Museum nach.

War es schwierig die richtige Reihenfolge der Bilder zu finden? Haben Sie eine Art Brainstorming zu den einzelnen Grafiken durchgeführt oder alles vor sich aufgelegt und erst einmal einen Faden gesucht?

Ich bekam ca. 200 Grafiken zur Auswahl, die dem Leopold Museum gehören, mit der Auflage ca. 40 auszusuchen und danach eine Art Graphic Novel zu schreiben. Umgekehrte Situation also: Normalerweise werden zu einem fertigen Text Illustrationen gemacht und hier war der Text zu fertigen Illustrationen gefragt. Ich durfte die Reihenfolge selbst bestimmen, aber das war schon alles. Ich kam mir vor als müsste ich den Mount Everest besteigen, und das ohne Sauerstoffflasche. Die 40 Grafiken ergaben keinen Faden, egal in welcher Reihenfolge man sie gelegt hat. Auf einer Grafik sitzt eine Frau auf dem Sarg, auf der zweiten ist ein hässliches Reptil und auf der nächsten eine Dame, die einen Hund spazieren führt. Wie soll man da einen Faden finden. Der einzige Faden war Kubins Geist und dort war die Lösung zu suchen.

Inwieweit haben Sie sich von Kubins Bildtitel beeinflussen lassen? Diese sind zum Teil mit „Gedenkblatt für meine 1903 verstorbene Braut“, „Lord Devil“ usw. sehr spezifisch.

Wenig. Kubin war ein großartiger Grafiker, aber seine Titel stehen in der Originalität dem Bild sehr nach. Aber sie müssen ja nicht originell sein. Das war nicht sein Job. Und dennoch; um ihn zu ehren, trägt das Buch einen gleichnamigen Titel wie seine berühmte Grafik. „Die Stunde der Geburt“.

Sie sind eher für unterhaltend-ironische Texte bekannt. Warum glauben Sie hat man sich keinen Autor, keine Autorin von Schauergeschichten oder lyrischen Texten geholt oder ist es gerade ihre Art des Witzes, den man für das Projekt haben wollte?

Dass man mich genommen hat zeugt vom großen Wagemut des Leopold Museums. Ich stehe für heitere Geschichten noch dazu aus dem Migrantenmilieu. Wie passt das mit dem düsteren Alfred Kubin zusammen? Gar nicht. Da wären tatsächlich andere Autoren, insbesondere jene, die mit der Tiefe „per du“ sind qualifizierter. Doch gerade diese Diskrepanz machte viele neugierig. Aber so schlimm war es nicht. Ich hatte einen kleinen Heimvorteil. Die „Emigrationsfremde“ ist schließlich die kleine Schwester der Existenzfremde. Und Kubin ist ein Existentialist ersten Ranges. Und so blieb am Ende alles innerhalb der „Fremdsein“-Familie.

Auch bei Alfred Kubins literarischem Werk „Die andere Seite“ geht es um das Fremdsein. Der Protagonist, ein Grafiker, unternimmt eine Reise in eine fremde Stadt, ins Reich der Träume und nicht zuletzt ins Unterbewusste, zu den Abgründen des Menschlichen. Kannten Sie seinen Roman und hat Sie dieser in irgendeiner Art und Weise beeinflusst? Auch ihr Protagonist unternimmt eine Reise in eine Stadt …

Ich habe den Roman mit 17 gelesen, weil ich damals wie ein Staubsauger alles Kafkaeske in mich aufsog. In über 30 Jahren, so viel ist seitdem vergangen, kann man eine Menge vergessen, zudem mich „Die andere Seite“ nicht besonders ergriff. Ich war verblüfft, als ich las, dass ich in meiner Geschichte ein ähnliches Motiv aufgriff. Offenbar hat das Unterbewusstsein sein eigenes Gedächtnis. Dennoch hat meine Stadt einen anderen Ton und auch einen anderen Ausblick.

In „Die andere Seite“ zeichnet Kubin nicht zuletzt die Entstehung einer Diktatur mit starken Führern und einer manipulierbaren Anhängerschaft. Brandaktuell, sozusagen. Wenn man in Ihrer Geschichte anfängt die einzelnen Passagen zu zerpflücken kommt man auf nicht minder aktuelle Bezüge. (Bauern pflügen, wo es nichts mehr zu pflügen gibt – Umweltverschmutzung, Land Grabbing; leere Botschaften, die aus Millionen von Wörtern bestehen – das Internet mit den sozialen Medien; Idioten, die auf Leitern stehen und nichts sehen – da drängt sich der Gedanke an gewisse Führungspersönlichkeiten auf … )
Inwiefern lässt sich „Die Stunde der Geburt“ auch gesellschaftskritisch oder gar politisch lesen? Sehen Sie Kubin als gesellschaftskritischen Künstler?

Jeder große Künstler, so auch Kubin, ist gesellschaftskritisch. Er liebt die Welt in der er lebt. Daher fällt seine Kritik heftiger aus, als die eines Menschen, dem es egal ist, wo er sich gerade befindet. Aus diesem Grund ist der Künstler mit seiner Kritik immer aktuell. Die Menschheit ist in einem Kreis der Wiederholung gefangen. Diktatoren gibt es seit wir denken und atmen können. Zerstörung der Natur. Narzissmus, heute geschürt durch die sozialen Medien, ist auch keine Neuheit. Die Instrumente ändern sich aber sie spielen immer noch die gleiche Melodie. Dabei wünscht sich ein Künstler nichts mehr als endlich nicht mehr aktuell zu sein. Einmal in einer Welt zu landen, wo ein Blatt auf dem Baum eine wichtigere Rolle spielt, als zum Beispiel die momentane Politik der USA.

Konnten Sie während Ihrer Arbeit neue Facetten im Werk des Künstlers Alfred Kubin entdecken?

Allerdings. Ich merkte schnell wie man in der Umarmung eines so großen Geistes nach oben gezogen wird. Ich würde jedem Künstler von heute empfehlen sich in eine Umarmung eines Künstlers von damals zu begeben. Das kann unserer zeitgenössischen Kunst nur gut tun.

Haben Sie ein Lieblingsbild aus der Publikation oder auch aus dem Gesamtwerk?

Ich habe viel zu viele, daher greife ich willkürlich eines heraus: „ Das Erdrückende“.
Auf diesem Bild wird ein Mann von einem großen Fisch erdrückt. Diese Situation erinnert mich an den Menschen von heute, der von der Last einer Frage erdrückt wird, die er Angst hat sich zu stellen. Sie liegt wie ein feuchter Fisch auf ihm, der nur existiert und nicht weiß was er anrichtet.

Ihre Geschichte gibt sich sowohl zu Beginn als auch am Ende selbst als Geschichte zu erkennen. Inwieweit handelt es sich dabei dementsprechend nicht zuletzt – oder vielleicht sogar allen voran – um eine Reise in die Welt der Imagination?

Der Held meiner Geschichte ist ein Mann, der auszieht um die wichtigste aller Fragen zu beantworten: Wer war ich in den letzten 80 Jahren? Eine Frage, die jeden betrifft. Er ist in dieser Geschichte der Mittelpunkt und ist ständig anwesend. Dennoch gibt es keine einzige Grafik, die ihn zeigt. Sichtbar wird er durch Stationen, die er durchschreitet und die Menschen, die er auf seinem Weg trifft. Das ist das Geheimnis der Imagination. Wir existieren erst dann, wenn wir uns die richtige Frage stellen. Die Suche nach der Antwort macht uns endlich sichtbar. Und wer weiß, mit etwas Glück wird diese Geschichte im Leser, der auch Betrachter ist, etwas sichtbar machen.

Zur Person:
Radek Knapp, 1964 in Warschau geboren, lebt als freier Schriftsteller in Wien und in 
der Nähe von Warschau. Mit seinem Roman „Herrn Kukas Empfehlungen“ schrieb er einen 
so genannten Longseller, der 2008 auch verfilmt wurde. Weitere Bücher von ihm sind u.a. 
"Papiertiger", eine "Gebrauchsanweisung für Polen", "Der Gipfeldieb" sowie 
2017 erschienen „Der Mann, der Luft zum Frühstück aß“.

Buchtipp:
Knapp, Radek: Die Stunde der Geburt / The Hour Of Birth: Eine Erzählung zu 41 Grafiken von Alfred Kubin / A Story Based Upon 41 Graphic Works By Alfred Kubin. Hrsg. Deuticke Verlag: Wien 2017. 92 Seiten. ISBN-13: 978-3552063686. Euro: 17.

Lesung und Künstlergespräch: Alfred Kubin trifft Radek Knapp Wien
Leopold Museum Wien Donnerstag, 31. August 2017,
19:00 Uhr

Ausstellung:
Radek Knapp trifft Alfred Kubin
Die Stunde der Geburt
Noch bis 04. September 2017
Leopold Museum
MuseumsQuartier Wien
Öffnungszeiten: Täglich: 10.00 – 18.00 Uhr, Donnerstag bis 21.00 Uhr
www.leopoldmuseum.org/de

Geschrieben von Sandra Schäfer