Verwinkelte Gassen, zauberhafte Dachgiebel und neugierige Bewohner, die Köpfe aus den Fenstern recken – was auf den ersten Blick wie die Darstellung eines kleinstädtischen Idylls wirkt, lässt sich bei näherer Betrachtung als Sozialkritik am Überwachungsstaat des Biedermeiers entschlüsseln. Nichts scheint im 19. Jahrhundert trotz des Rückzugs ins Private dem Auge des aufmerksamen Betrachters verborgen – einiges davon wurde für die Nachwelt auf die Leinwand gebannt. Unter anderem – mit einem Œuvre von insgesamt 1.700 Bildern – auch vom oftmals als „beliebtesten deutschen Maler“ bezeichneten Münchner Künstler Carl Spitzweg.

Noch bis 19. Juni sind über 100 seiner lange Zeit fälschlicherweise als Zeugnis biedermeierlicher Beschaulichkeit abgetanen Werke im Leopold Museum zu „enträtseln“. Zur Seite gestellt wurde den Gemälden eine kleine, nicht minder aussagekräftige Anzahl von Skulpturen und Fotografien von Erwin Wurm – Österreichs vermutlich bekanntester Gegenwartskünstler und gemeinsam mit Brigitte Kowanz diesjähriger Vertreter Österreichs bei der Biennale in Venedig.

Betrachtungen zum Eigenheim und Eremitentum

So seltsam der Titel der Ausstellung und die darin befindliche künstlerische Liaison zwischen Spitzweg und Wurm auf den ersten Moment für viele anmuten mag, tatsächlich ist das Konzept perfekt aufgegangen. Es macht als Ausstellungsbesucher nicht nur Spaß das gleich im Eingangsbereich aufgestellte „Narrow House“ – eine mit veränderten Proportionen stark geschrumpfte Version des Elternhauses Wurms – zu erkunden, sondern auch im Anschluss Verbindungsbrücken mit den Werken Carl Spitzwegs zu konstruieren. Sei es durch eigenständiges Abtasten der Bilder oder durch Unterstützung der treffend einfach formulierten Wandtexte, die die Schau begleiten. So wie Spitzweg inspiriert Wurm mit seiner von Selbstironie zeugenden Darstellung seines Elternhauses zu Betrachtungen über gesellschaftliche Enge. Im Begleittext heißt es dazu: „Dass das Narrow House aufgrund der vorgenommenen Verfremdungen verunsichert, regt es die Betrachtenden zur Reflexion über die Idee des Eigenheims als Garant eines gelungenen Lebens an.“

Um Lebensmodelle beziehungsweise selbst auferlegte Lebensweisen geht es auch einen Raum weiter, wenn Spitzweg den Wahlspruch der Eremiten „Gut lebt, wer im Verborgenen lebt“ künstlerisch interpretiert. Auf zahlreichen Gemälden stellt Spitzweg inspiriert vom Schweizer Eremitentum, das er während einer Reise 1841 kennengelernt hatte, das einfache Leben dar. Dass dieses allerdings weniger einfach ist als angenommen verrät ein genauerer Blick auf die Gänse rupfenden, Hähnchen grillenden und Wein trinkenden Mönche, die gelegentlich auch den Blick von jungen vorbeikommenden Frauen nicht lassen können. Damit persifliert der Künstler nicht nur das Bild vom mythischen entsagenden Lebensstil wie es der Heilige Antonius vorgemacht hat, sondern bewegt sich mit seinen Bildern zudem an der Grenze von Sein und Schein. Als mahnende Erinnerung an eine tatsächlich einfache Kost wächst eine gigantische Kartoffel Wurms aus der Wand – nicht das einzige Gemüse, das im Laufe des Rundgangs zu finden ist: Mit 36 in Acryl gegossenen Essiggurkerln sowie dem „Selbstporträt als Essiggurkerl“ regt Wurm – ähnlich wie Spitzweg mit seinem bekannten Bild „Der Kakteenliebhaber“ – zur Auseinandersetzung der Außenwelt, und der darin befindlichen diversen Objekte und Naturgesetze im Bezug zum Selbst an.

Von Jägern und Beamten

Weniger hochtrabend, dafür umso amüsanter gestalten sich die Auseinandersetzungen der eineinhalb Jahrhunderte voneinander getrennten Künstler mit dem Thema der Jagd.
Verschreckt blickt ein so genannter „Sonntagsjäger“ bei dem Anblick eines vor ihm befindlichen Rehs den Betrachtern von der Leinwand entgegen. Das Gemälde verdeutlicht ebenso wie Wurms Fotografie eines Jägers, der sich stolz mit Hund und Trophäe präsentiert, dass die abgebildeten Männer einzig den Zweck der Repräsentation verfolgen.

Die Frage nach Schutz der Bevölkerung durch Legislative und ausführende Organe stellt sich hingegen wenige Schritte weiter. Auch hier bieten sich zwischen aktuellen Diskussionen um die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger sowie den Überwachungs- und Zensurmaßnahmen zur Zeit des Biedermeiers Parallelen zum Nachdenken an.

Mit Überlegungen zum Winter des Lebens und der Vergänglichkeit bei gleichzeitigem sexuellen Verlangen entlässt die Ausstellung den Besucher bzw. die Besucherin schließlich beinahe sentimental – wäre da nicht die Skulptur eines Mannes ohne Kopf, dafür mit einer mächtigen Erektion, die die Sache mit dem Sex abschließend auf die Spitze treibt. Unterhaltsam, lehrreich und mitunter nachdenklich stimmend – mehr kann man von einer Ausstellung wahrlich nicht erwarten.

Carl Spitzweg – Erwin Wurm . Köstlich! Köstlich?
Noch bis 19. Juni 2017
Leopold Museum
MuseumsQuartier, Museumsplatz 1
1070 Wien
Öffnungszeiten: Täglich außer Dienstag: 10 – 18 Uhr, Donnerstag 10.00 bis 21.00 Uhr, Feiertage 10.00 bis 18.00 Uhr bzw. am Donnerstag bis 21 Uhr
www.leopoldmuseum.org

Geschrieben von Sandra Schäfer

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