Mutter, Vater, Urgroßvater, Propheten, Jünger, Gläubige, bekannte Sünder – alle sind sie da. Zumindest ihr Abbild. Noch konkreter: Die Abbilder ihrer Abbilder. Überlebensgroß und in leuchtender Farbe. Geschaffen hat sie Erich Lessing, österreichische Fotografie-Legende und der einzige, dem es vom Vatikan in den 90er Jahren erlaubt war, die frisch restaurierten Michelangelo-Fresken in der Sixtinischen Kapelle abzulichten.

Die Verwertungsrechte an den Bildern hat er mittlerweile an ein US-Unternehmen weitergegeben. Dieses vergab die Rechte zunächst für eine Ausstellung in Montreal, die in einer Messehalle untergebracht wurde. Eine Präsentationsform, die für die Wiener Initiatoren der Schau Michael Erb und Manfred Waba jedoch nicht in Frage kam. Für die österreichische Präsentation schwebte den Geschäftspartnern ein sakraler Rahmen vor. Auch eine „simple“ Gerüsthängung wie sie in Übersee zum Tragen kam, schien für die Präsentation der meterhohen Fotografien als unpassend. Die Lösung kam vom Theaterarchitekten Waba. Er entwickelte eine von einer Schalung verdeckte Gerüst- Konstruktion, um die Abbildungen besser in das Raumgefüge der Votivkirche einzupassen.

Wer sich dieser Tage durch den 34 Fresken-Reproduktionen umfassenden Parcour schlängelt, ahnt regelrecht die umfassende Arbeit, die hinter einem derartigen Groß-Projekt steckt – von den Aufnahmen über deren Ausarbeitung bis hin zu Transport und Präsentation. Fast wirkt es so, als hätte man eine Riesenboa dazu gebracht, sich unauffällig in ein Gartenhäuschen zu kuscheln. Welch Wunder – sie passt.

Arbeit in der Sixtinischen Kapelle

Es mag zwar anstrengenden sein, ein derartiges Ausstellungsmonster zu zähmen. Wer jedoch schon einmal seinen Plafond selbst ausgemalt hat, der hat vermutlich eine ungefähre Vorstellung davon wie es sein muss, jahrelang mit einem Pinsel ein Gemälde an die Decke zu malen. Michelangelo tat dies – nachdem er seine Assistenten entlassen hatte – über vier Jahre unermüdlich. Den Kopf und damit den Blick nach oben gerichtet verwandelte er die Decke der Sixtinischen Kapelle in die bildliche Geschichte der Schöpfung. Und das, obwohl der Künstler, der sich lieber seinen bildhauerischen Projekten zugewandt hätte, das Projekt nur widersträubend angenommen hatte. Für einen Widerwilligen hatte er sich allerdings tatkräftig in die Arbeit hineingesteigert. Der ursprüngliche Plan des Papstes, lediglich zwölf Apostel zu verewigen, war für Michelangelo zu dürftig. Er setzt sich mit seiner Vorstellung durch – und so zieren heute neben der Schöpfungsgeschichte, sieben Propheten, fünf Sibyllen, sämtliche zumeist als Kinder dargestellten Vorfahren Jesu – von Rehoboam (Sohn Salomons) über Ezechias bis Asa, dem dritten König von Judäa – sowie das Jüngste Gericht die Sixtinische Kapelle.

Letzteres wurde allerdings erst 25 Jahre nach der Fertigstellung der Fresken im Jahr 1536 von Michelangelo in Angriff genommen. Wiederum musste der Künstler von seiner aktuellen Arbeit ablassen und nach Rom eilen, um dem Wusch des Papstes nachzukommen. In den folgenden Jahren erschuf Michelangelo um die 390 Figuren auf einer Fläche von rund 200m2. Die Reproduktion bildet den Höhepunkt der Wiener Ausstellung. Ihr gegenüber Michelangelos wohl berühmtestes Fresko: Die Erschaffung Adams. Während der göttliche Funke in der Sixtinischen Kapelle an der Decke rund zwanzig Meter über den erhobenen Köpfen der Touristen überspringt, kann man in der Votivkirche beinahe in die Augen des Allmächtigen blicken. So ganz geht es sich dann allerdings doch nicht aus. Bessere Aussicht hat man zwei Bilder weiter auf den blanken Arsch desselbigen.

Michelangelos Sixtinische Kapelle in Wien
Noch bis 4. Dezember 2016
Votivkirche
Öffnungszeiten: täglich 10.00 bis 18.00 Uhr
www.sixtinischekapelle.at

Geschrieben von Sandra Schäfer